zum Hauptinhalt
Fabian Hinrichs.

© promo/Jelka von Langen

Interview mit Fabian Hinrichs: „Man wird überall abgepudert“

Fabian Hinrichs liest am Sonntag im Nikolaisaal. Im Interview spricht der Potsdamer Schauspieler über Literatur aus den 1930er Jahren, den Mangel an Gegenwartsdramatik und die Ruhe in Potsdam.

Von Helena Davenport

Herr Hinrichs, Sie lesen am Sonntag Texte von Erich Kästner und Klaus Mann. Autorinnen spielen aber keine Rolle. Warum?

Auf das Programm konnte ich keinen Einfluss nehmen, aber ich bin mir sicher, dass keine sexistischen Motive hinter der Text- und Musikauswahl stehen. Natürlich waren Frauen in geistigen Berufen, wie in allen anderen Berufen auch, zu der Zeit noch viel stärker unterrepräsentiert als heute. Also könnte es ein Problem bei der Textauswahl gewesen sein. Ich finde es aber generell wichtig, dass die Stimme der Frauen zu Wort kommt. Das ist eine wichtige Veränderung. Wobei man über das Generische Maskulinum noch einmal sprechen müsste. Ich bin da nicht ganz einer Meinung mit den Feministinnen, wobei ich mit einer verheiratet bin. Ich finde, bei literarischen Texten ist es mindestens schwierig, wenn man alles gendert. Man könnte alles in der weiblichen Form schreiben, da hätte ich nichts dagegen. Eine Form sollte es geben. Wer möchte auch schon Sternchen sein?

Was ist das Besondere an Literatur aus den Dreißigern?

Wenn man das von heute aus betrachtet, fällt einem auf – insbesondere wenn man wie ich Theaterschauspieler und manchmal Regisseur ist –, dass es heutzutage im Gegensatz zu der Zeit damals diesen beklemmenden Mangel an starker, suggestiver Gegenwartsdramatik gibt. Ab der Jahrhundertwende gibt es ja mit Wedekind, mit Mann, Musil Varianz und Dichte an starker Literatur. Das ist schon erstaunlich. Da muss man mal drüber nachdenken und sich fragen, warum das zu dieser Zeit so war und warum es heute nicht so ist. Ich denke, dass ein Grund dafür sein könnte, dass die Verhältnisse von Freundschaft und Feindschaft viel klarer bestimmt waren. Die betonierten, schroffen Machtverhältnisse waren sichtbarer. Wohingegen der Kapitalismus heute jede utopische Energie sofort abgesaugt hat, transformiert und verändert. Dadurch ist es viel schwieriger, klare emotionale Positionen zu beziehen.

Warum genau?

Hier, also im sogenannten Westen, geht es den Leuten vorgeblich gut. Vorgeblich, denn mit den Gewinnen wächst ja auch der Niedriglohnsektor. Aber die heftige Armut der Jahrhundertwende ist weit entfernt. Ich war gerade in der Villa Hügel in Essen und die war eines der wenigen Gebäude in Deutschland, in Europa sogar, die fließendes warmes Wasser hatten. Noch nicht einmal Kaiser Wilhelm I. hatte warmes Wasser, und der badete so gern und musste dafür ins Adlon gehen. Die heute nahezu unvorstellbaren Armutsverhältnisse also, die natürlich auch Mutterboden des Kommunismus waren, und dann des Nationalsozialismus, sind ja weitestgehend abgeschafft. Das Reich der Notwendigkeit gibt es im herkömmlichen Sinne nicht mehr, im Reich der Freiheit leben wir überraschenderweise trotzdem nicht, ein Zustand, den Marx nicht vorausgesehen hat. Heiner Müller hat einmal gesagt: In der DDR konnte er über sein Krebsgeschwür schreiben und im Westen nur über Hühneraugen. Literatur als Abstoßung von etwas und insbesondere zu etwas hin hat in den Zwanzigern und Dreißigern viel eher funktioniert. Als Widerstand, als Reibung und Ausdruck von Schmerz, gegen Ungerechtigkeit und mit Zukunft in den Augen. Heute wäre das natürlich nicht minder wichtig, aber es ist viel schwieriger, eine solche Kraft in sich aufzubauen. Weil man überall abgepudert wird, eingeseift. Und weil so viele Träume zerbrochen sind.

Wie könnte sich das ändern?

Wenn man sich die „Fridays for Future“-Demonstrationen anschaut – ich meine das gar nicht zynisch, die sind ja auch sehr wichtig – dann sieht man, dass das hauptsächlich Jugendliche aus gutem Hause sind, aus Akademiker- oder Lehrerhaushalten. Aber was machen die Leute aus Zehdenick, die an der Dönerbude herumstehen? Das wäre meine Frage. Der Ruf nach Veränderung ist ja nur der Ruf nach grünem Kapitalismus. Ein Merkmal dieser Wirtschaftsordnung ist es, dass sie Menschen nicht braucht. Maschinen verrichten alles viel besser. Menschen kosten hingegen Geld, werden krank, haben Bedürfnisse. Und das wird auch im grünen Kapitalismus so sein. Ob man nun künstliches Kerosin herstellt oder nicht – ich meine, klar ist das alles wichtig. Aber die Mindeststandards der Teilhabe halten die Jugendlichen am Alexanderplatz, oder die in Zehdenick, ruhig, weil sie ja irgendwie leben können. Aber andererseits sorgen sie dafür, dass sie nicht die Kraft aufbringen, für sich einzustehen. Diese Menschen, die nichts verwerten können, die braucht auch der grüne Kapitalismus nicht. Und das ist ein riesiges Problem, denke ich, nicht zuletzt ein Problem der Würde. Ich weiß auch nicht, wie sich das verändern sollte.

Sie studieren nebenher, bilden sich weiter. Schaffen Sie es denn, auch privat zu lesen?

Die Verhältnisse ändern sich dauernd. Jetzt habe ich zum Beispiel ein Stück gemacht mit René Pollesch, ich habe mit ihm zusammen Regie geführt und geschrieben: „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“. Und währenddessen lese ich dann schon viel, im Zusammenhang mit den Gegenständen, die wir behandeln. Meine Frau macht außerdem gerade eine Ausbildung zur Psychoanalytikerin. Und deswegen lese ich dann auch ein bisschen in der Fachliteratur mit. Und was mir sonst im Studium begegnet – ich studiere ja wirklich nur aus Leidenschaft. Belletristik lese ich tatsächlich selten. Im Urlaub dann mal und ich lese natürlich jeden Abend bestimmt 40 Minuten den Kindern vor, am Tag auch. Drei und fünf sind die beiden, es gibt für jeden ein Buch.

Warum eher selten Romane?

Ich hatte verschiedene Haltungen zu Romanen: Eine Zeit lang habe ich viele Romane gelesen, dann kam eine Zeit, in der ich Romane richtig abgelehnt habe. Da habe ich nur Sachliteratur gelesen. Denn Musil hat das ja beispielsweise auch gemacht: Er hat bestimmte wissenschaftliche Theorien, naturwissenschaftliche oder philosophische, ja fast mit der Copy-Paste-Methode in seine Bücher mit eingebaut und diese einfach fiktiven Personen in den Mund gelegt. Das wird ihm ja auch vorgeworfen, aber ich finde das ganz toll. Aber man denkt dann natürlich auch: Tja, dann kann ich auch das Sachbuch lesen und mir meine eigene Meinung bilden. Aber das sehe ich nicht mehr so. Dieses Fabulieren, dass mich die Literatur irgendwohin führt, mich jemand anderes sein lassen kann, der ich sonst nicht bin, mir Welten zeigt, in denen ich noch nie war, und in der sogenannten Realität nie sein werde – das schafft dann schon der Roman, wenn auch selten. Es wird auch so ein Gefühl von Verbundenheit mit Menschen im Allgemeinen ausgelöst.

Sie leben in Potsdam. Wo lesen Sie hier?

Ich wohne am Heiligen See. Man muss ein bisschen aufpassen, wenn man so etwas sagt. Denn es gibt Leute, die dann sagen: Da hat man überhaupt keinen Kontakt mehr zu den Problemen dieser Gesellschaft. Das stimmt natürlich nicht. Und die negativen Erlebnisse speichert man leider sowieso für immer in sich. Was mir begegnete, als ich nach Potsdam gezogen bin: Dass keine Menschen auf den Straßen zu sehen waren. Das sind ja auch keine Straßen, da fährt ja auch nie ein Auto. Und es gibt ganz hohe Bäume, die es in Berlin nicht gibt, denn nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg brauchte man Brennholz. Da gibt es diese niedrigen Bäume, aber in Potsdam gibt es diese hohen Bäume. Und man begegnet nicht diesen vielen anderen Menschen – für mich ist das sehr wohltuend.

>>„Moralisten, Rebellen und Verführer“, Kammermusikalische Lesung, Sonntag, 20. Oktober um 18 Uhr im Nikolaissal, Wilhelm-Staab-Straße 10/11.

Zur Startseite