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Wer braucht schon ein Luxusloft. „Schöner Wohnen“ im sogenannten Staudenhof.

©  Kathrin Ollroge

Kultur: In aufgeblätterten Wohnungen

Die Potsdamer Fotografin Kathrin Ollroge hat hinter die Fassade des Staudenhofs geschaut

Was würde man wohl tun, wenn eines Tages eine Fotografin vor der eigenen Tür stünde und fragt, ob man fotografiert werden möchte und die eigene Wohnung gleich mit dazu? Die meisten würden wohl wenig begeistert sein. Kathrin Ollroge ist Fotografin und hat genau das getan. Die 43-Jährige klingelte im Rahmen des diesjährigen Metropolar-Projektes an unzähligen Türen im sogenannten Staudenhof-Block, sprach Menschen aller Generationen im funktional kühlen Entree des 1971 errichteten Wohnblocks Am Alten Markt 10 an und veranstaltete sogar ein Etagenfest, um das Vertrauen der fast 200 Bewohner zu gewinnen.

Das Ergebnis ihrer einjährigen Fotopirsch ist nun unter dem Titel „Nachbarn“ in den Räumen der Urania zu sehen. Und gar nicht wenige der auf die Bilder gebannten Bewohner, die mit ihrem Einverständnis den Blick hinter die ehemals weiße Fassade dieses knapp sechzig Meter langen siebenstöckigen Gebäudes freigegeben haben, waren persönlich zur gut besuchten Vernissage gekommen. Dieser Kasten, der mit seinen dicht an dicht, über- und nebeneinander geschachtelten Balkonen wie eine uniforme Trutzburg der Urbanisierung wirkt und in wenigen Jahren abgerissen werden soll.

Dagegen regte sich Widerstand. Nicht nur von den in einer Bürgerinitiative organisierten Bewohnern, sondern auch von der Potsdamer Gruppe Metropolar, die sich seit dem Abriss des „Haus des Reisens“ gegen den rigoros betriebenen Stadtumbau wendet, der seit der Wiedervereinigung in der brandenburgischen Landeshauptstadt vorangetrieben wird. Metropolar will Zeichen dafür setzen, genauer hinzugucken, was die Identität Potsdams – neben den Schlössern und der barocken Innenstadt – ausmacht und was aus DDR-Zeiten erhaltenswert ist. Auch darum, weil die DDR-Architektur das Gesicht der Stadt zum Teil seit einem halben Jahrhundert prägt. Mit dem Abriss würden an dieser und anderen Stellen nicht nur Betonmassen verschwinden, sondern auch Menschen mit ihren individuellen Geschichten und Erfahrungen, die sie genau an und mit diesen Orten machten.

In den Räumen der Urania sind fast drei Dutzend Fotos mit Wohnungseinblicken und den Bewohnern ausgestellt, zudem gibt es – eine sehr gute Idee – viele in die Hand zu nehmende Tafeln, auf denen Auszüge aus Gesprächen mit Bewohnern dokumentiert sind. „Ich fühle mich hier sauwohl“, ist da zu lesen, es wird auf die preiswerten Mieten mitten in Potsdams Zentrum verwiesen und gefragt, „ob es nicht auch Entwurzelung sei, wenn man sein halbes Leben hier verbracht hat“ und jetzt im Alter ausziehen muss.

Doch genau so, wie man die Gesprächsauszüge mit wachsender Spannung liest, so geht man auch von Foto zu Foto und saugt mit Neugierde die Details der aufgeblätterten Wohnungen in sich auf. Hat man doch hier die seltene Möglichkeit, hinter die, wie es der österreichische Künstler Friedensreich Hundertwasser nannte, „dritte Haut des Menschen“ zu blicken.

Kathrin Ollroge ist es gelungen – und das erfordert sehr viel Geduld und Empathie –, ganz unterschiedliche Menschen für ihr Projekt zu begeistern: Beginnend bei den zwei betagten Nachbarinnen auf der einzigen Bank vor dem Haus, lernt man junge Menschen und ihre zeitgemäß provisorisch-praktischen Lebensräume sowie Bewohner kennen, deren langes Leben sich in vielen kulturellen Schichten in ihren gerade mal 20 Quadratmeter großen Wohn-Schlafräumen „abgelagert“ hat. Es ist faszinierend, zu sehen, mit wie viel Kreativität sich auf noch so begrenztem Raum Individualität leben und gestalten lässt.

Da gibt es Fotos, die zeigen, wie selbst die Einbauschränke im schmalen Flur mit eigenhändiger Bemalung zum persönlichen Möbelstück werden, wie Betonwände mit Stuck und Spiegeln eine beinahe barocke Anmutung entwickeln oder eine raffinierte blau-weiße Farbgestaltung genau diese eine Wohnung wie in südlichen Gefilden verortet erscheinen lässt. Man lässt schnell alle Vorurteile fahren und guckt sich fest an diesen Bildern, die vor allem in ihrer Intimität und Intensität faszinieren. Menschen verschiedener Generationen, unterschiedlichster Berufe und Weltanschauungen, Männer und Frauen, Deutsche und Migranten haben die Fotografin in ihr Heim gelassen und damit ihren ganz privaten Raum, der ihre Persönlichkeit, ihre Vorlieben und Abneigungen und ihre soziale und kulturelle Zugehörigkeit abbildet, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Und so steht man vor diesen stets auf Augenhöhe Porträtierten und entwickelt fast wie beim „Memory“-Spiel eine Suche nach Zusammengehörigkeit. Mithilfe von Fantasie und Einfühlungsvermögen entstehen dabei Geschichten, die in den vergangenen vier Jahrzehnten und bis heute in Potsdams Mitte stattfanden und -finden und in einem kurzen Moment fotografisch festgehalten wurden. Und: Diese Menschen- und Raumporträts können auch dann noch betrachtet und die dazugehörigen Geschichten erinnert werden, wenn dieses ostmoderne Wohnquartier längst einer anderen Bebauung weichen musste. Vielleicht kann ja das Potsdam-Museum durch einen Ankauf der Serie auch den Nachgeborenen diese faszinierenden Einblicke ermöglichen.

Noch bis zum 10. Januar in der Urania, Gutenbergstraße 71/72. Mo, Di, Do 9-18 Uhr, Mi, Fr 9-13 Uhr

Astrid Priebs-Tröger

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