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Kultur: Im Glühkern

Katja Lange-Müller sprach über das „Rätsel Kleist“

Potsdams Kleist-Schule mag zwar mal eine Grande Ecole gewesen sein, große Räume aber hat sie nicht. Um den Publikumsandrang zugunsten von Katja Lange-Müller am Mittwochabend zu bewältigen, musste sogar das Klassenzimmer nebenan per Videokamera zugeschaltet werden. Riesenfreude und viel Respekt bei der Schulleitung, große Erwartung bei den vielen Kleist-Schülern, die sich dem allgemeinen Publikum zugesellt hatten. Die extra für diesen Abend aus Istanbul zugereiste Autorin wollte über das „Das Rätsel Kleist“ sprechen. Für den Einstieg suchte man nach Gemeinsamkeiten zwischen ihr und ihm: unkonventionelle Lebensart, ruhlose Suche nach dem eigenen Zentrum, gesellschaftliche Zwänge, grotesker Humor, biografische Umwege und Brüche, was als Schnürbündel zuletzt im Schreibenmüssen ende. Aber Katja Lange-Müller fragte mit feinem Gespür sogleich zurück: „Sind Sie wegen mir hier, oder wegen Kleist?“

Eine Antwort auf diese rhetorische Floskel blieb selbstredend aus. Und so trug Katja Lange-Müller als Auftakt zum 275. Jahr der Grande Ecole ihre Preisträgerrede auf Kleists Novelle vom „Erdbeben in Chili“ (1806) in Teilen vor. Darin fragt sie nach dem Glühkern der Kleistschen Vita, ob er nach den Regeln der Zeit ein Soldatenkind oder Kindersoldat gewesen sei, und ob er bei seiner Feuertaufe in der Schlacht bei Pirmasens 1793 gegen die Franzosen womöglich Menschen getötet habe, was zu einem seelischen Knacks, dem Ausstieg aus der militärischen Laufbahn und zu einem dichterischen Lebensweg geführt haben könnte. Alles leider nur Spekulation, nichts Genaueres weiß man. Kein Mensch ist zu ergründen, kein Werk. Der Autorin jedenfalls scheint sich nicht nur jeder Sinn des Soldatenseins zu verschließen. Sie versteht auch Kleists „Kriegslied der Deutschen“ von 1809 gegen die schwere französische Besatzung nicht, wo es heißt, man müsse die Franzosen „mit Keulen“ aus dem Lande jagen. Na ja, in seiner „verhüllten Fassung“ waren es nur noch Büchsen. Rätsel über Rätsel also auf beiden Seiten.

Katja Lange-Müller sprach über Kleists Syntax und Stil, über die Kunst, im Nacheinander von Worten Gleichzeitigkeit zu erzeugen. Seine Stücke hält sie für unspielbar, seinen Figuren spricht sie ein Eigenleben ab. Kleist habe sie nur für seine novellistischen Konstruktionen gebraucht. Ein „herausragender Empiriker“ wäre er eh nicht gewesen. Was sie mit ihrer herb-berlinerischen Art vortrug, haben sicher viele geglaubt, einige sind auch diskret gegangen. Den größten Teil des Abends widmete sie aber dem Glühkern beim „Erdbeben in Chili“. Hier war ihr besonders der Schlusssatz dieser grandiosen Novelle ein Rätsel, wo ein aufgebrachter Mob die sündigen Hauptfiguren für das Beben verantwortlich macht und übel lyncht. Gottesstrafe, Teufelswerk? Für Katja Lange-Müller eine Art Fortsetzung der früheren Kriege, die Kleist, nach dem Abschied von der Fahne ins Innere seiner Figuren legt. Sie tat sich schwer, über die unmittelbare Ebene eines Textes hinauszukommen. Zur Deutung brauche sie die konkrete historische Situation. Heiliger Glühkern, nichts von Symbolik und Allegorie gehört? Da muss man sich doch nicht wundern, wenn Kleist der Kleistpreisträgerin Katja Lange-Müller ein Rätsel bleibt. Man kann eben nicht immer alles erklären, soll es auch nicht. Deutung ist ja wie Löcher verstopfen, da kommt der Geist nicht mehr durch, Fantasie erst recht nicht. Zum Schluss las Katja Lange-Müller dann noch zwei eigene Texte. Gerold Paul

Gerold Paul

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