zum Hauptinhalt
Liebelei. Sopranistin Marie Lys in der Rolle der Iris.

© Stefan Gloede/Musikfestspiele

Hybrides Live-Programm in Potsdam Sanssouci: Wunderkammerklänge

Es gibt sie doch: Die Musikfestspiele Sanssouci mit „Pastorelle en musique“ von Georg Philipp Telemann im Schlosstheater des Neuen Palais.

Dich, teure Halle, grüß ich wieder: Waren es tatsächlich sieben Jahre? Das Schlosstheater Sanssouci, im Südflügel von Friedrichs Neuem Palais untergebracht und eines der wenigen erhaltenen – da nicht abgebrannten – Barocktheater in Deutschland, ist Samstagabend nach Renovierung wiedereröffnet worden.

Mitten im so hoffnungsfrohen Pandemiesommer 2021: ein schönes Zeichen. Da das Virus sich gerade zu verkrümeln scheint, haben die Musikfestspiele Potsdam, denen die Stadt im März keine Hoffnung auf ein Festival in Aussicht stellte, kurzfristig doch noch ein hybrides Live/Digital-Programm auf die Beine gestellt. (noch einmal beim Public Viewing auf dem Winzerberg Potsdam, 26. Juni, 20 Uhr)

So kann denn, wenn auch auf Abstand, in diesem über 250 Jahre alten Parkett wieder Publikum sitzen und Musik erklingen, und was für eine: „Pastorelle en musique“ von Georg Philipp Telemann, eine Schäferoper, entstanden in Telemanns Frankfurter Zeit zwischen 1712 und 1721.

Verblüffend, dass offenbar schon im Hochbarock, als man von industrieller Entfremdung des Menschen noch nicht ernsthaft sprechen konnte, die Sehnsucht nach der vermeintlichen Idylle und Einfachheit eines Lebens in der Natur und mit den Tieren stark ausgeprägt war, zumindest in den privilegierten Kreisen.

In dieser „Pastorelle“ – in der Telemann teils Texte von Molière vertont hat – stellt die arkadische Kulisse den neutralisierenden Hintergrund zur Verfügung, vor dem sich elementarste menschliche Gefühlsregungen entspinnen: Zwei Männer, Damon und Amyntas, lieben zwei Frauen, Caliste und Iris, doch nur das eine Paar findet schnell zusammen, während das andere länger braucht. Dazu kommt als fünftes Rad am Wagen das Faktotum Knirfix, für den der Weg zum Sex ein langer ist und der sich stattdessen – eine häufig gewählte Strategie – für Essen entscheidet.

Ein funkelndes Tableau voller musikalischer Schönheiten

Und doch ist diese hier skizzierte Handlung nicht mehr als ein Vorwand, ein Mäntelchen für den Komponisten, um seine berühmte Stilvielfalt voll auszuspielen. Das wird schon bei der suitartigen Ouvertüre völlig klar: Telemann, der über 50 ähnliche Bühnenwerke geschaffen hat, schüttelt die prächtigsten Airs und Tänze nur so aus dem Ärmel, setzt immer wieder unerwartete Klangeffekte ein, serviert ein funkelndes Tableau voller musikalischer Schönheiten.

Eine wirklich Oper, indes, serviert er nicht. Von den Vorstellungen eines stringent durchdramatisierten, glaubwürdig entworfenen Stoffs, wie sie sein Zeitgenosse Christoph Willibald Gluck in die Tat umsetzte, von den Libretti eines Mozart/da Ponte-Teams gar ist dies lichtjahreweit entfernt.

Der Fokus liegt somit zunächst mal auf dem Graben – und auf Dorothee Oberlinger am Pult. Die Blockflötistin und Leiterin der Musikfestspiele Potsdam greift auch mal selbst zum Instrument, wenn es Vogelgezwitscher zu intonieren gilt, und treibt den musikalischen Fluss mit minutiöser Präzision voran – ohne dass das Spiel des von ihr gegründeten Ensembles 1700 je im Uhrwerkhaften erstarren würde, alles bleibt stets durchpulst von heißblütigem musikalischen Empfinden.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.

Viel empfunden wird auch oben auf der Bühne, wo vor allem die beiden Soprane (Marie Lys stürzt sich beherzt ins Liebesabenteuer, Lydia Teuscher singt die skeptische Caliste als eine Vorgängerin von Mozarts Donna Anna) punkten können. Florian Götz übertreibt es etwas mit dem steifen, von ihm weitgehend ironiefrei gesungenen französischen Stil, sein Tenor ist auch nicht frei von kaugummizähen Augenblicken.

Männer tragen Kniebundhosen, Frauen Mieder

Der frühere St. Florianer Sängerknabe Alois Mühlbacher vermag es nicht, als Countertenor den zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit changierenden Charakter der Figur des Amyntas voll auszukosten, er bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Erfrischend hingegen die irrlichternden Kurzauftritte von Virgil Hartinger als Knirfix, der zudem im Finale des ersten Aktes einen, wenn nicht den Höhepunkt des Abends bestreiten darf: Sein sängerisches Umkreisen des Phänomens der Liebe wird begleitet von einem famosen Geigensolisten (Yves Ytier), der dazu vom Graben auf die Bühne steigt.

Dort haben Regisseur Nils Niemann, Spezialist für barocke Theaterpraxis, und Ausstatter Johannes Ritter eine zeittypische Illusionsbühne mit Bäumen in den seitlichen Gassen und lieblicher Landschaft in der perspektivischen Tiefe aufgebaut.

Männer tragen Kniebundhosen, Frauen Mieder. Ist das jetzt in seiner Historisierung provokant oder einfach nur konsequent?

Dorothee Oberlinger sagt, sie glaube nicht, dass Inszenierungen immer und unbedingt etwas über unsere Gegenwart aussagen müssten, das täten die Stücke sowieso, durch ihren Stoff. Im Vergleich zum streckenweise arg steifen „Polifemo“, bei den Musikfestspielen 2019 ebenfalls historisch inszeniert, ist diese „Pastorelle“ jedenfalls deutlich vitaler geraten. So kann man sich denn, da die Regie so wenig Widerstand bietet, zurücklehnen und Telemanns musikalischen Wunderkammer bestaunen.

Zur Startseite