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Holocaust-Überlebender Leon Schwarzbaum in Potsdam: „Ich hatte nicht die Kraft, mir das Leben zu nehmen“

Leon Schwarzbaum war gerade Anfang 20, als seine Familie in Auschwitz ermordet wurde. Er selbst überlebte. Die Dokumentation „Der letzte Jolly Boy“ geht seinem bewegten Leben nach. Der 97-Jährige stellte sie im Thalia-Kino vor.

Von Sarah Kugler


Potsdam - Es ist das erste Mal seit über 70 Jahren, dass Leon Schwarzbaum wieder singt. Eine vorsichtige Freude ist ihm dabei anzusehen, er lächelt entspannt. „Roumania, Roumania“ heißt das jiddische Lied – ursprünglich komponiert und interpretiert von Aaron Lebedeff – , das er in der Schlussszene von „Der letzte Jolly Boy“ in einer Duettversion vorträgt. Es ist eine der berührendsten Szenen in der Dokumentation von Regisseur Hans-Erich Viet, die er am Dienstagabend gemeinsam mit Leon Schwarzbaum auf Einladung des Fachschaftsrates Jüdische Studien und das Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft der Universität Potsdam im Thalia-Kino vorstellte. Sie ist leicht und fröhlich und und trägt trotzdem all das Schreckliche nach außen, das Leon Schwarzbaum in seinem Leben erlebt hat. 

Leon Schwarzbaum ist 97 Jahre alt und lebt in Berlin.
Leon Schwarzbaum ist 97 Jahre alt und lebt in Berlin.

© Manfred Thomas

Der heute 97-Jährige jüdischer Herkunft wurde 1921 in Hamburg geboren, seine Familie zog 1923 in die oberschlesische Kleinstadt Bedzin: eine der größten jüdischen Gemeinden im damaligen Polen. Schwarzbaums Eltern betrieben dort eine Manufaktur für Daunen- und Steppdecken. Nach dem Einmarsch der Deutschen musste die Familie ihr Haus aufgeben und in ein Ghetto im Außenbereich von Bedzin ziehen. Bei der Räumung des Ghettos im August 1943 wurden Schwarzbaums Eltern, seine Tanten und Onkel verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort am selben Tag in den Gaskammern ermordet. Insgesamt verlor er 35 Familienmitglieder und zahlreiche Bekannte sowie Freunde im Holocaust, wie er im Film mehrmals erwähnt. 

Regisseur Hans-Erich Viet und der Holocaust Überlebende Leon Schwarzbaum (v.l.) im Thalia.
Regisseur Hans-Erich Viet und der Holocaust Überlebende Leon Schwarzbaum (v.l.) im Thalia.

© Manfred Thomas

„Ich habe einfach Glück gehabt“

Er selbst floh zunächst in die Nachbarstadt, wurde dann aber von der SS aufgegriffen und ebenfalls nach Auschwitz gebracht. Schwarzbaum muss einen starken Schutzengel gehabt haben, denn er überlebte sowohl die Ghettozeit in Bedzin, die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Sachsenhausen sowie den Todesmarsch nach Schwerin. Dort wurde er im April 1945 von amerikanischen Soldaten befreit.

„Ich habe einfach Glück gehabt“, sagt Schwarzbaum im Thalia und ergänzt: „Und ich hatte nicht die Kraft, mir das Leben zu nehmen.“ Mehrfach hat er daran gedacht, bereits als seine Familie abgeführt wurde und er allein zurück blieb. Letztendlich habe ihm wahrscheinlich auch seine körperliche Fitness überleben lassen. Bis heute hat sie nicht nachgelassen. Auch wenn Schwarzbaum im Film – damals war er 94 Jahre – über Rückenprobleme klagt, sein Alter ist ihm ansonsten nicht anzumerken. Geistig hellwach ist er sowieso. 

Regisseur Hans-Erich Viet (2.v.rechts), Kameramann Thomas Keller (rechts) und Leon Schwarzbaum (M.). 
Regisseur Hans-Erich Viet (2.v.rechts), Kameramann Thomas Keller (rechts) und Leon Schwarzbaum (M.). 

© Manfred Thomas

Schwarzbaum hätte gerne studiert

Davon und von seiner ungehemmten Art, auf andere Menschen zuzugehen, lebt auch „Der letzte Jolly Boy“. Im Film wird seine Lebensgeschichte nämlich nur angerissen. Ohne vorher angelesene Informationen zu Leon Schwarzbaum, wäre der Zuschauer in dieser Doku etwas verloren. Der Film begleitet Schwarzbaum bei verschiedenen Reisen in die Vergangenheit: Er besucht in Bendzin sein Elternhaus und seine ehemalige Schule, in der 1939 sein Abitur absolviert hat. Das Zeugnis hat er allerdings nie erhalten. Trotz mehrerer Nachfragen bis heute nicht. Mit ein Grund dafür, dass er nach dem Krieg mit seiner Frau einen Antiquitätenladen in Berlin eröffnete. „Ich wollte eigentlich etwas anderes machen, vielleicht studieren“, so Schwarzbaum im Thalia. Auch wenn sein Abitur eher mittelmäßig ausgefallen ist, wie er schmunzelnd zugibt. 

Noch lieber hätte er Musik gemacht. Als Schüler hat er mit drei anderen Jungs die Band „Jolly Boys“ gegründet, sogar bei einem Radiosender haben sie vorgesungen – doch dann kam der Krieg. „Ich wäre gerne beim Gesang, bei der Musik geblieben“, sagt Schwarzbaum. Bis zu der Dokumentation habe er danach nicht mehr gesungen oder musiziert. „Gesungen haben in Auschwitz nur die Franzosen“, erzählt er im Film, dessen Titel etwas irreführend ist. Denn „Der letzte Jolly Boy“ verweist auf einen Abschnitt in Schwarzbaums Leben, der in der Doku nur mit wenigen Sätzen erwähnt wird. Weil es nicht mehr Material dazu gab, wie Regisseur Hans-Erich Viet im Thalia erklärt. Der jetzige Titel klinge eben besser als „Der letzte Zeuge“ oder Ähnliches. 

Regisseur Hans-Erich Viet.
Regisseur Hans-Erich Viet.

© Manfred Thomas

Der Titel des Films ist etwas irreführend

Dabei liegt der Schwerpunkt eben genau auf diesem Fakt. Die Doku zeigt Leon Schwarzbaum als einen der letzten lebenden Zeugen des Holocaustes, der in Schulen seine Geschichte erzählt. Der 2016 beim Prozess gegen Auschwitz-Wachmann August Hanning als Nebenkläger auftritt und in der Gedenkstätte von Auschwitz mit Besuchern redet. Es sei seine Pflicht, über das Erlebte zu sprechen, sagt Schwarzbaum. Erst spät konnte er sich dazu überwinden, möchte aber nun gegen das Vergessen ankämpfen – solange er lebt. Das wird sowohl im Film als auch live im Thalia deutlich. „Ich erzähle nur das, was ich erlebt habe“, sagt er. Das tut er ohne Hass in der Stimme, ohne Dramatik. Seine Erzählungen von den vielen, vielen Morden, die er täglich mit ansehen musste, wirken durch seine nüchterne Art noch erschütternder. Sein Gesang am Ende des Films umso befreiender. 

>>„Der letzte Jolly Boy“ ist wieder am Donnerstag, 7. Februar, am Samstag, 9. Februar, am Sonntag, 10. Februar sowie am Dienstag, 12. Februar, jeweils um 13.45 Uhr, im Thalia, Rudolf-Breitscheid-Straße 50, zu sehen.

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