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Helge Meves liest im Freiland aus „Libertalia“: Von Piraten lernen

Aufregend sind sie ja eigentlich wegen ihres Ungehorsams. Piraten, so gehen die Legenden, haben sich über alle Regeln hinweggesetzt, sich genommen, was sie wollten und sich ein freies, schönes Leben gemacht.

Aufregend sind sie ja eigentlich wegen ihres Ungehorsams. Piraten, so gehen die Legenden, haben sich über alle Regeln hinweggesetzt, sich genommen, was sie wollten und sich ein freies, schönes Leben gemacht. Klar, zimperlich waren sie dabei nicht und an Recht und Gesetz haben sie sich eh nicht gehalten.

Zwielichtige, verwegene Gestalten, die irgendwo zwischen edlen Helden und brutalen Räubern oszillieren. Tatsächlich war es wohl ein bisschen anders. Das beschreibt das Buch „Libertalia“, einem Daniel Defoe zugeschriebenen und 1728 erschienen Bericht über die gleichnamige Piratenrepublik auf Madagaskar. Der Berliner Philosoph Helge Meves hat eine ins Deutsche übersetzte Fassung herausgegeben – und liest am heutigen Donnerstag daraus im Jugendkulturzentrum Freiland.

Nur Wenige wissen, sagt er, dass viele zu Seeräubern wurden, weil sie auf der Flucht waren – vor religiösen Restriktionen, den vielen Kriegen des 17. Jahrhunderts, dem Kolonialismus – und dass sie dabei fortschrittliche Vorstellungen entwickelten, also Toleranz, gerechte Verteilung von Besitz, Demokratie. „Vor allem befreiten sie Sklaven, die von hier nach dort verschifft wurden und stellten ihnen frei, sich der Piratenkolonie auf Madagaskar anzuschließen oder nicht“, so Meves. Die Idee der Gesellschaft, die sie da mit Seeleuten, Madagassen und Migranten aus aller Welt aufbauen wollten, kann man durchaus als Utopie bezeichnen.

Für das Freiland war das Grund genug, das in Bezug zu den heutigen Flüchtlingsbewegungen zu setzen. Und abwegig ist das nicht – „in Priratenfilmen sehen wir meist nur weiße Männer, tatsächlich aber waren ein Drittel der Piraten befreite oder geflohene Sklaven“, sagt Meves. Der entscheidende Punkt: Um zusammenzuleben, mussten sie sich auch in Libertalia mit ihren jeweils unterschiedlichen kulturellen Prägungen, ihren jeweils anerzogenen Religionen auseinandersetzen. „Sie mussten also überlegen: Was haben wir alle gemeinsam“, so Meves. Sie einigten sich auf das Religionsmodell des Deismus, also dem Glauben an einen Gott aus Verstandesgründen – und ohne Offenbarungsweisheiten. Sprich: Das, was sich nicht diskutieren lässt, die letzten Fragen, die Suche nach der einen Wahrheit, sind Privatsache. „Das setzt die Bereitschaft zur Ideologiekritik voraus“, sagt Meves. Dass die Piraten in Libertalia das schafften, habe auch damit zu tun, dass sie alle erlebt und erfahren hätten, dass Herrscher sich die jeweiligen Religionen nur als Mantel überwerfen, um sich so zusätzliche Autorität zu sichern. Das sei, so Meves, heute für Europäer, die weitestgehende Trennung von Religion und Staat gewohnt seien, nur noch schwer nachzuvollziehen. „Damals aber wurde noch jedes Gerichtsurteil im Namen Gottes ausgesprochen.“

Bei so viel Freigeist in Libertalia bleibt natürlich am Ende die Gretchenfrage: Wie haben sie es mit den Frauen gehalten? „Alle wesentlichen Entscheidungen in Libertalia werden gemeinsam getroffen“, sagt Meves. Es gibt aber auch diese Szene: Bei einer Überfahrt treffen die Piraten auf ein Schiff mit 150 Frauen – und rauben sie. Allerdings – so basisdemokratisch sind sie – nicht ohne vorherige Debatte und Urabstimmung. Einer wirft ein: „Wir befreien jeden Tag Sklaven – und nehmen uns jetzt diese Frauen?“ Er wird überstimmt. Das, sagt Meves, ist eben das Problem radikal-demokratischer Methoden. Dinge, die eine politische Bildung und lange Debatten erfordern, werden quasi blind entschieden. Ariane Lemme

Helge Meves liest am heutigen Donnerstag um 19.30 Uhr im Haus 2 des Freiland aus „Libertalia“.

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