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Wie die Profis. Die achtjährige Sara lebt seit Februar mit ihrer Familie in Potsdam, in der Awo-Flüchtlingsunterkunft auf dem Brauhausberg. Zweimal in der Woche musiziert sie mit anderen Kindern auf der Geige. Begleitet wird sie dabei von Musikpädagogen – einige von ihnen sind ebenfalls als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen.

© Andreas Klaer

Kultur: Heimat-Musik

Töne sollen helfen Traumata zu heilen: Auf dem Brauhausberg spielen Musiker gemeinsam mit Flüchtlingskindern

Sara ist acht Jahre alt und hält schon wie eine Profimusikerin ihre kleine Geige in der Hand. Zusammen mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder kam sie aus Damaskus nach Potsdam. Seit Januar lebt sie in der Flüchtlingsunterkunft auf dem Brauhausberg. Noch fehlen ihr einige deutsche Sprachkenntnisse, um sich auszudrücken. Doch die Töne, die sie mit dem Bogen auf der Geige spielt, klingen sauber und rein.

Von Anfang an nimmt Sara beim Projekt „MitMachMusik“ teil, einem Projekt zur Integration von Flüchtlingskindern. „Die Kinder kommen hier an und sind sprachlos. Wir geben ihnen eine Stimme durch ihr eigenes Tun“, sagt Pamela Rosenberg. Mit Musikern, Kinderärzten und Musikpädagogen gründete die ehemalige Intendantin der Berliner Philharmoniker das Projekt. Seit fast vier Monaten findet im ehemaligen Landtag auf dem Brauhausberg regelmäßig zweimal in der Woche Musikunterricht statt.

„MitMachMusik“ ist in Brandenburg einzigartig: Nicht die deutsche Sprache wird als Dreh- und Angelpunkt des Ankommens gedacht, sondern das eigene Musizieren. Die Musik ist es, die den Kindern und Jugendlichen Heimat vermitteln soll. Mehr Augenmerk auf die Kultur als integrationsfördernde Maßnahme hat sich inzwischen auch das Brandenburger Kulturministerium auf die Fahnen geschrieben, indem es einzelne künstlerische Projekte unterstützt. Und auch der Deutsche Kulturrat mahnt an, dass kulturelle Integration ebenso wichtig sei wie ein Deutschkurs. Doch dies bedürfe finanzieller und personeller Ressourcen. „MitMachMusik“ ist bislang einzig dem privaten Engagement von Potsdamer und Berliner Bürgern zu verdanken.

In einem ehemaligen Büroraum im alten Landtag hängen Schaubilder mit Notenlinien und farbigen Punkten: auf einer Wand das Kinderlied „Hänschen klein“, daneben ein syrisches Vogellied. „Musik, Musik, wir machen Musik“, heißt die Hymne des Projekts, die alle zusammen jedes Mal zu Beginn spielen und singen. Ohne Angst vor falschen Tönen schrummt und summt die Gruppe von einem Dutzend Kindern auf kleinen Geigen, Celli und Gitarren. Dann wird erst mal der Auf- und Abstrich auf der G-Saite geübt. „Wir ziehen einen dicken Fisch aus dem Wasser“, sagt Marie Kogge und streicht den Bogen betont über die Geige. Sie leitet den Unterricht an, ihre Gestik und Mimik machen Dolmetschen unnötig. Als Leiterin zweier Schulorchester an der Potsdamer Waldorfschule in der Waldstadt hat die Geigerin aus Klein-Glienicke schon reichlich Erfahrungen gesammelt. Doch dies hier ist auch für sie etwas anderes: „Es sind zum Teil schwer traumatisierte Kinder, für die es eine neue Erfahrung ist, dass es um sie geht, dass sie gemeint sind.“ Nicht immer können sich die Kinder gut konzentrieren. Ein Junge macht aus seinem Bogen lieber spielerisch eine Lanze und spießt damit Notenpapier auf, als die Saiten zu streichen.

Dass die Kinder aus so unterschiedlichen Ländern wie Syrien, Irak, Afghanistan und Tschetschenien kommen, spielt keine Rolle. Es ist die Sprache der Musik, die sie miteinander vereint. Dabei seien die musikalischen Kulturen der Herkunftsländer sehr verschieden, erklärt Kogge. Sie richtet die Lieder so ein, dass die Kinder sie gleich auf ihren Instrumenten umsetzen können: Für jedes Lied findet sie ein einfaches Muster mit wenigen Tönen, die auf leeren Saiten spielbar sind. Und sie führt das Lied über ein seelisches Bild ein: „Wie mit dem Fisch oder wie das Glockenläuten bei dem Lied von Bruder Jakob oder das Flattern beim Vogellied – und diese Bilder sind eigentlich Bewegungsbilder“, sagt Kogge. Es sei faszinierend, dass diese seelischen Bilder in allen Kindern leben, egal woher sie kommen. Wenn das musikalische Gerüst steht, kommen Melodie und Bassstimme dazu. In kleinen Gruppen üben die Kinder die einzelnen Stimmen – manch einer ahmt die Melodie einfach vom Hören nach. Am Ende eines jeden Nachmittags spielen alle zusammen – es entsteht jedes Mal ein kleines Konzert. „So kommen wir sogar schon frühzeitig zu einer einfachen Form von Mehrstimmigkeit“, sagt Marie Kogge. Den Rhythmus geben arabischsprachige Helfer vor – auf Tablas und Cajón. Auch von ihnen sind viele aus dem Nahen Osten nach Deutschland geflüchtet. Einer von ihnen ist Musikpädagoge im Hauptfach Violine, ein anderer ein Meister auf der arabischen Knickhalslaute Oud.

Auf der Gitarre gibt ein junger Musiker aus Aleppo den Ton an und hält die Truppe der kleinen Gitarristen zusammen. Besonderen Eindruck macht der sechsjährige Ahmet, als er auf seiner Miniaturgitarre die eben gelernte Melodie einwandfrei vorspielt. „Das ist einfach das Ergebnis von unserer Methode“, erklärt Marie Kogge, die vor allem mit Bestätigung und frühen Erfolgen arbeitet. Ihre neuen Fähigkeiten, das Wissen über Musik und die positiven Erfahrung, etwas zu „können“, sollen den Kindern das Einleben in der fremden Umgebung erleichtern. „Musik ist eine Wahrnehmungsschulung“, sagt Pamela Rosenberg, „vielleicht sogar die wichtigste. Sie ermöglicht, sich zu öffnen, Gefühle zuzulassen, sie formt ein respektvolles Miteinander und weckt Empathie füreinander.“

Manchmal kommen noch Musikschüler aus Potsdam dazu, was schon fast ein richtiges Orchester ergibt. Vor dem Sozialausschuss Potsdam haben die Kinder kürzlich zusammen musiziert. Weitere Auftritte sollen folgen, doch zunächst nur für einen kleinen Zuhörerkreis von Eltern und Helfern, um den Aufführungsdruck fernzuhalten. Stattdessen ist Priorität, dass mit den Kindern kontinuierlich etwas aufgebaut wird. „Die Kontinuität hat heilende Wirkung auf verletzte Seelen“, sagt Kogge.

Als die Musikstunde schon eine Weile läuft, kommt ein blasser Junge zur Tür herein und wird von den anderen mit einem High-Five-Handschlag begrüßt. Dann nimmt der zwölfjährige Mohammed ein Cello zur Hand und macht völlig selbstverständlich mit. Er spielt gut – wenn er denn kommt. Um Kontinuität zu gewährleisten, führen die Kinder kleine Hefte mit sich, in denen ihre Teilnahme und die Fortschritte dokumentiert werden. Wer regelmäßig erscheint, darf sich ein eigenes Instrument wünschen. Gestiftet wird es von Paten und Mäzenen. Vier Kinder haben dieses Ziel bereits erreicht.

Babette Kaiserkern

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