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Schlüpfrig? Martha (Stephanie Glaser, r.) ist eigentlich einfach lebensfroh.

© Promo

Kultur: Heidi, heute

Das Filmmuseum spürt mit einer Filmreihe „Schweizer Macherinnen“ nach – und der großen Bandbreite des viel zu wenig bekannten eidgenössischen Films

Wie es Heidi, dem berühmten Schweizer Wald- und Wiesenmädchen, wohl heute geht? Nimmt man die 1952 entstandene Spielfilmfassung, die immer noch und trotz vieler Nachahmer als die beste Verfilmung des Kinderbuches von Johanna Spyri gilt, als Ausgangspunkt, dann wäre sie heute etwa 80. Heidi hätte, nüchtern betrachtet, ganz gute Chancen, zu einer unglücklichen Frau heranzuwachsen, trotz der herrlichen Landschaft und des zugeneigten Großvaters. Vielleicht hätte sie einen waldschratigen Mann aus ihrem Dorf geheiratet und wäre heute Mutter eines heimattümeligen Lokalptrioten der Neuen Rechten.

Oder aber sie wäre wie Martha. Martha ist die betagte, berückend eigenwillige Protagonistin in Bettina Oberlis Film „Die Herbstzeitlosen“. Der 2006 entstandene Film wird am 30. August im Rahmen der heute beginnenden Reihe „Schweizer Macherinnen – Frauen vor und hinter der Kamera“ im Filmmuseum gezeigt – ebenso wie „Heidi“ übrigens (2. August).

Martha lebt wie Heidi in den Schweizer Bergen, und auch Martha lebt ihre Heimatliebe. Aber mehr noch als die Heimat liebt Martha ihr eigenes Leben. Das hat sie nach dem Tod ihres Mannes erst neu lernen müssen. Aber mit Hilfe ihrer Freundinnen erinnert sie sich irgendwann, was sie eigentlich schon immer wollte – und macht es dann einfach: Sie näht Dessous, und verkauft sie in dem Laden, wo sie ein Leben lang als Verkäuferin von Mehl und Milch hinterm Tresen stand. Ihre Heimatliebe stickt Martha in Form von floralen Trachtenmustern auf die Spitzenwäsche.

Das findet weder der heimattümelige Lokalpatriot, den es hier tatsächlich gibt, noch ihr Sohn, der Pfarrer ist, besonders gut. Wo kämen wir hin, wenn alle einfach machten, worauf sie Lust hätten?, brüllt Marthas Sohn sie einmal an. „Die Herbstzeitlosen“ ist eine Hommage an den Mut, genau das zu tun. Sich Vorurteile und Erwartungen anderer egal sein zu lassen – gerade als hochbetagte Frau in erzkonservativem Gehege.

Martha ist also eine der Macherinnen, denen die Kuratorinnen Birgit Acar und Ursula von Keitz in ihrer Reihe bis 28. September nachspüren wollen. Ingesamt 15 Filme haben sie dafür ausgewählt. Der älteste, ein Stummfilm mit neuer Musik von Antonio Coppola, macht heute den Auftakt: Jacques Feyders „Kindergesichter“ von 1925. Die Geschichte eines Kindes, das eine grausame Tat verübt und dann versucht, sich das Leben zu nehmen.

„Schweizer Macherinnen“ ist nach den USA, Frankreich und Italien der vierte Länderschwerpunkt, den sich das Filmmuseum vornimmt. „Die Reihe ist wie die anderen als ein Streifzug durch die Filmgeschichte des Landes konzipiert“, sagt die Kuratorin Birgit Acar. Das Filmland Schweiz ist das bislang unbekannteste. „Dabei ist die Schweiz seit den 1960er-Jahren für ihre Dokumentarfilme bekannt“, sagt Acar. Einziger „reiner“ Dokumentarfilm der Reihe ist jedoch „Journal de Rivesaltes 1941–42“ (17. August) von Jacqueline Veuve, die Geschichte der Krankenschwester Friedel Bohny-Reiter. Sie arbeitete während des Zweiten Weltkrieges in einem Auffanglager des Schweizerischen Roten Kreuzes in Frankreichs „Freizone“ und bewahrte zahlreiche Kinder vor dem Tod in Auschwitz. Ein semi-dokumentarischer Film ist „Frauennot – Frauenglück“ von Eduard Tissé (27. Juli), ein Film, der unter Sergeij Eisenstein 1929 entstand und 1978 nochmal bearbeitet wurde.

Eine erste Blüte erlebte das Schweizer Kino in den 1930er- und 1940er- Jahren, in den 1960er-Jahren schwappte die Nouvelle Vague auch in die Schweiz. Besonders geprägt von der Groupe des cinq, benannt nach den Regisseuren Jean-Louis Roy, Claude Goretta, Michel Soutter, Jean-Jacques Lagrange und Alain Tanner. Von Letzterem ist „Der Salamander“ (3. August) zu sehen – ein Film von 1971, in dem der Regisseur nach 1968 das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit untersucht – und über die Identitätssuche in Zeiten der Konsumgesellschaft reflektiert.

Erst ab den 2000er-Jahren traten verstärkt Regisseurinnen auf den Plan, etwa Sabine Ross („Studers erster Fall“, 17. August), Andrea Staka („Das Fräulein“, 31. August) oder Stina Werenfels („Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“, 27. September). Oder eben Bettina Oberli. Deren „Herbstzeitlosen“ erstürmten sich immerhin Platz drei auf der „ewigen Bestenliste“ des Schweizer Kinos. Lena Schneider

„Schweizer Macherinnen“, bis 28. September im Filmmuseum. Auftakt heute um 19 Uhr mit „Kindergesichter“

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