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Erst aufbrausend, dann gebrochen. René Schwittay spielt Ödipus (l.) als aufbrausenden Herrscher im grauen Dreiteiler. Später flieht er nach Athen, um dort in Ruhe sterben zu können. Dieses Athen ist bei Tobias Wellemeyer eine von Frauen beherrschte Welt.

© HL Böhme

Hans Otto Theater Potsdam: Beeilung bitte, Tragödie

Mit „Europa“ hat Intendant Tobias Wellemeyer seine vorletzte Premiere in Potsdam vorgelegt. Das Stück von Soeren Voima erzählt drei Stücke in weniger als drei Stunden.

Drei Tragödien in drei Stunden: Wahrlich keine Kleinigkeit, die sich Tobias Wellemeyer in seiner vorletzten Inszenierung in Potsdam vorgenommen hat – eine Inszenierung zumal, die so nicht vorgesehen war. Im Spielzeitheft war noch Christian Weise als Regisseur von „Europa“ angeführt, Anfang des Jahres sprang er dann ab und der Intendant ein. So kam es, dass Wellemeyer vor der großen Abschiedsinszenierung von Shakespeares „Sturm“ im Mai noch Sophokles und Euripides einschiebt: „König Ödipus“, „Die Phönizierinnen“ und „Ödipus auf Kolonos“. Unter dem Namen „Europa“ textlich zusammengezurrt hat das Soeren Voima – ein Pseudonym für ein Autorenkollektiv, das es vorzieht anonym zu bleiben. Die Regisseure Robert Schuster und Christian Tschirner sollen dazugehören, möglicherweise auch der Dramaturg Bernd Stegemann.

Wer auch immer dahintersteht, Soeren Voima hat nicht nur drei Tragödien zu einem Text verdichtet, sondern ihm auch eine zusätzliche Figur verpasst: Kadmos. Der kommt bei Sophokles und Euripides nicht vor, hält in „Europa“ aber die drei Stücke zusammen. Nicht um den Kontinent geht es hier, sondern um die Königstochter Europa, ein Mädchen aus dem Nahen Osten. Eine, in die Göttervater Zeus sich verguckte, der er sich in Gestalt eines Stieres näherte. Die er dann verschleppte, auf seinem Rücken ins Meer trug. Auf ein fernes Stück Land, das später den Namen der Entführten erhalten sollte. Europa jedenfalls ward nicht mehr gesehen, ihre Brüder suchten jahrelang nach ihr. Einer dieser Brüder ist Kadmos. Auch er findet sie nicht, dafür folgt er dem Hinweis des Orakels von Delphi und lässt eine Stadt bauen: Theben. Theben wird die Stadt der Ödipus-Tragödie. Später dann.

Ödipus als Bindeglied

Das ist die Vorgeschichte, in „Europa“ wird sie erst nach und nach erzählt. Der Abend beginnt mit einem Klagelied. Kadmos ruft seine verlorene Schwester an: „Europa! Europa! / Lauf am Meer ich fort und fort / Komm zum andern Ufer / Find das Schwesterchen ich dort! / Europa!“ Wie Jan Kersjes das im Wachmann-Kostüm vorträgt, ein gedehnter Schmerzensschrei, durchschüttelt von Arabesken, durchschüttelt es den Zuschauer auch. Es berührt gleich die wichtigsten Themen des Abends. Flucht, Fremde, Sehnsucht, Verlust. Als Kersjes fertig ist, gibt es den ersten Applaus, „Europa“ ist keine fünf Minuten alt. Ein starker Beginn, so unmittelbar wird der Abend einen nicht wieder berühren. Auch wenn Kadmos immer wieder auftaucht, ein tragikomischer Buffo, der die mythische Suche nach der eigenen Schwester mit der nach dem heutigen Ideal Europa kurzschließt. Ja, das sagt die Inszenierung: Beides haben wir aus den Augen verloren.

Die Figur, die die drei antiken Tragödien verbindet, ist Ödipus. René Schwittay spielt ihn als aufbrausenden Herrscher im grauen Dreiteiler. Das Theben, in dem er anfangs herrscht, hat graue Wände, Bürotisch, Bürostuhl. Head Office oder Labor? Seine Entourage trägt weiße Kittel, im Hintergrund ist eine ominöse Maschine zu sehen. Eine vom Verstand gelenkte Welt, soll das wohl heißen. „Jeder hat das Recht zu wissen,/ Wie schlimm es um ihn steht“, sagt Ödipus noch. Dieses Recht kostet ihn bald seine Frau, sein Seelenheil, sein Amt sowieso. Alsbald erfährt er, wie es wirklich um ihn steht: dass er den Vater tötete, mit der Mutter Kinder zeugte. Aus dem Tosenden wird ein Gebrochener, bald schon hat sich seine Frau Iokaste (Rita Feldmeier) das Leben genommen, und Ödipus wankt mit blutverschmiertem Tuch über den Augen über die Bühne. Hat erst nicht genug gesehen, dann zu viel, und sich dafür das Augenlicht genommen. Ende Teil eins.

Das Stück hätte mehr Zeit gebraucht

Eine abendfüllende Geschichte wäre das, hier dauert sie eine Stunde. Wie um dem Gehalt dennoch gerecht zu werden, geben die Darsteller das Darzustellende extra groß. Christoph Hohmann als der blinde Seher Teiresias stolpert mit Gigantenschritten über die Bühne, stochert weit ausholend im Nichts. Die Darsteller brechen angesichts des dräuenden Unheils zu Boden, brausen auf, rollen mit den Augen, starren vielsagend ins Leere. Wohltuend ist da der erdende Auftritt von Sabine Scholze als Frau aus Korinth, erschütternd in ihrer Ruhe auch die von Franziska Melzers Ismene vorgebrachte Nachricht vom Tod der Mutter. Und doch ist dem Ganzen der Druck anzusehen, in wenig Zeit hier möglichst viel Emotion zu bringen: Beeilung bitte, Tragödie!

Womöglich hätte „Europa“ einfach ein paar Stunden mehr gebraucht. Denn der Ansatz ist durchaus interessant: „Europa“ will eben auch den Vorlauf (Kadmos) und die Fortsetzung der Ödipus-Geschichte erzählen. Wie dessen Söhne Eteokles (in Wehrmacht-Mantel und Scheitel: Florian Schmidtke) und Polyneikes (mit Extremistenbart und Samuraischwert: Frédéric Brossier) sich über der Frage, wer Theben nun beherrschen darf, zerfleischen. Wie sie die Stadt in den Krieg stürzen, soundtechnisch mit viel Kawumm. Und wie Ödipus schließlich nach Athen flieht, um dort – endlich – in Ruhe sterben zu können. Dieses Athen ist bei Tobias Wellemeyer eine von Frauen beherrschte Welt, Staatsoberhaupt Theseus wird von Rita Feldmeier gespielt. Bei ihr sucht Ödipus Asyl, von einer „Beauftragten“ wird es ihm gewehrt. Die einstigen Gottheiten sind hier zu Statuen geworden, die Bühne gleicht einem Museumsraum. Raumgreifendes Exponat: „Der Raub der Europa“ von Max Beckmann.

Federleichter Schluss

Als hätte Kadmos seine Schwester tatsächlich gefunden, spricht er nun nicht mehr von der Suche nach ihr, sondern bringt sich selbst ins Spiel, jetzt in Krawatte und weißem Hemd. Stellt sich als Anwalt vor und umgarnt Ismene mit Heroengeschichten aus der Antike, zu denen er, Kadmos, natürlich auch gehört. Franziska Melzers Ismene hört sich das lächelnd an. Hat sie womöglich längst durchschaut, die Männermärchen, lange genug hielt sie den Heroen ja tröstend die Hände. Das ist ein hübscher, federleichter Schluss nach drei langen, ziemlich gewichtigen Stunden. Zurück bleibt Europas angeschlagenes Erbe, das auf der Bühne in Form von Statuen vor uns steht. Und die Frage, was eine wie Ismene zu all dem gesagt hätte, wäre sie wirklich mal zu Wort gekommen.

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