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Ein „behindertes Arschloch“. Florian Schmidtke spielt Florian, der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt und der sich sein Schicksal nicht von einer dauergrinsenden Selbsthilfe-Gruppe wegtherapieren lassen will.

© HL Böhme

Kultur: Glücksritter der Handicapgesellschaft

Das so böse wie leichtfüßige Stück „Die Kunst des negativen Denkens“ hatte Premiere in der Reithalle

Was ist menschlich? Was bedeutet Scham, was Glück? Halt. Anders formuliert: Was bleibt vom Menschen übrig, wenn die von Coaches und Ratgebern heimgesuchte Gesellschaft das Programm ihrer Utopie erfüllt? Ist dann das Tier im Menschen gezähmt? Und wenn es gezähmt ist, sitzen schließlich alle friedlich beieinander und lauschen andächtig dem Sound des Grals, den sie von nun an bewohnen? Oder wäre nicht besser Rettung vor diesen falschen Versprechen angesagt, vor diesen gefährlichen Verheißungen, die am Ende möglicherweise ins Totalitäre münden? Zumindest in gewisser Weise: Beteilige dich an der Philosophie des Nichtrauchens. Bediene die Gruppe. Gib deine schlechten Gewohnheiten auf. Tue nichts, was den positiven Effekten eines erfüllten Lebens entgegensteht. Sei sauber. Verweigere nichts. Kurz und gut: Bringe dein revolutionäres Opfer für die zu therapierende Handicapgesellschaft.

Nein, im Stück „Die Kunst des negativen Denkens“, das am Freitag in der Reithalle des Hans Otto Theaters Premiere feierte, geht es nur vordergründig um Behinderte und Rollstuhlfahrer. Die innere Logik greift tiefer. Die Inszenierung von Fabian Gerhardt geht auf den gleichnamigen Film des norwegischen Autorenfilmers Bård Breien zurück, dessen Feelbad-Komödie von der Kritik gefeiert wurde, die darin ein Manifest der Liebe und Hoffnung erkennen wollte. Das wäre vermutlich die süßliche Variante, die am Ende des Filmes verstehende Emotionsgewinner nach Hause entlässt.

So einfach ist es natürlich nicht. Wenn sich in der Reithalle auf der von Matthias Müller gestalteten Bühne nach aller mentaler Zerfleischung die Hauptfigur Florian, gespielt vom starken Florian Schmidtke, und seine Frau Marianna in den Armen liegen, blüht wahre Liebe auf. Nur ist diese Liebe das, was sie schon vorher war – bedroht. Unentwirrbar überkreuzen sich die Fragen der Geschlechterverteilung mit sexuellen Begierden, Machtstrukturen, sogenannten bürgerlichen Erwartungen und den Resten christlicher Gefühle wie Mitleid und Solidarität.

Dabei ist die Story um den im Rollstuhl sitzenden Florian gut geeignet, um das Mahlwerk der Denk-positiv-Ideologie einmal kräftig unters Seziermesser zu legen. Florian besitzt ein tolles Haus, gebiert sich als Macho und wird von seiner Frau geliebt. Doch nach einem Unfall ist er querschnittsgelähmt und existiert nach dem Leitmotiv, Totsein könnte kaum schlimmer sein. Mit anderen Worten: Wir erleben ein männliches Subjekt, das obsessiv mit oder besser gegen seinen Anerkennungsverlust kämpft. Seine Strategie ist die der Übertreibung: Denke negativ. Sei kein Ehemann, der die hingebungsvolle Pflege seiner Frau dankbar erduldet. Sie kein tapferer Patient, der aus der Misere das Beste macht. „Scheiß auf alle, die glauben, das alles gut wird.“ Die Selbstillusionierung ist dabei wesentliches Werkzeug: Ich bin nicht krank, krank sind die anderen. Oder, wie Florian es der Therapiegruppe, die ihn besucht, herausschreit: „Circus Roncalli soll zurück in die Anstalt! Verdammte behinderte Arschlöcher!“

Hier sind wir mitten im Mark der gegenwärtigen, von Prekariaten übersäten Servicegesellschaft angekommen. Da gibt es die alten Rollen, auf männlicher wie auf weiblicher Seite, die infrage stehen. Da gibt es die Verlierer. Und da gibt es gefühlt eher wenige Gewinner. Die Literatur sagt an dieser Stelle, auch bei den Gewinnern läuft nichts perfekt. Und so dreht sich alles um die Frage: Wie dem allgemeinen Handicap der Entwürdigung des Menschen, der nicht mehr gebraucht wird, begegnen? Andrea, die siegessichere Therapeutin, vertritt dabei den klassischen Part der neoliberalen Missionarin. Gerufen von Florians Frau Marianna, bietet sie Selbsthilfe-Sitzungen an, die dem quasi-exorzistischen Ziel folgen: Schließe alles Schlechte aus. Atemübungen, mantraartige Selbstberuhigungsphantasmen, Respekt – hier kommt die ganze Think-positive-Ideologie aufs Tablett, um den Trotz auszutreiben und die Teilnehmer vermeintlich der Gesundung zuzuführen.

Dieses Team ist dann auch von rührender Komik. Angeführt von der Grinsekatze Patrizia, hinreißend gespielt von Patrizia Carlucci, über die Kleptomanin Rita bis hin zu Peter, dem einst erfolgreichen Unternehmer, der nach einem Schlaganfall ebenfalls im Rollstuhl sitzt, gibt sich die Gruppe alle Mühe der Welt, positiv zu sein. Dazu gehört auch, kleinste Entgleisungen als menschliche Regungen zuzulassen. Stehe zu deinen Mängeln. Verschweige dir und anderen nicht, wer du bist: ein Behinderter, ein Verlierer, doch ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Zitat Andrea: „Entschuldigung wird in der lösungsorientierten Gesellschaft nicht verwendet.“

Und während Florian standhaft negativ bleibt, was mit heftiger Musik und Koks korreliert, zerbröselt das Positiv-Antlitz der Teilnehmer. Positiv zu sein erweist sich als eine extrem anstrengende psycho-chirurgische Farce. Da hilft auch der Kotzbeutel nichts, in den sich die Teilnehmer immer wieder symbolisch entladen: „Arsch, Arsch, Arsch.“

Am Ende spielen sie Russisch Roulette. Allianzen werden geschlossen und wieder zerstört, Glück bleibt dabei ein fragwürdiger Wunschtraum derer, die alternativlos in ihre Analyse verstrickt sind. Es braucht nur eine Nadel, um die Konstruktion zum Platzen zu bringen. Die Paradoxie: Zum Platzen bringt das Ganze vornehmlich Florians Widerständigkeit. Allein in seiner unverhohlenen Direktheit scheinen Angebote aufzukeimen, zu etwas vergleichbarem wie Glücksempfinden und Mitmenschlichkeit zurückzukehren.

Doch auch das ist nur die halbe Wahrheit. Hier stehen wir an einem weiteren Meilenstein der Gegenwart: Wie viel Positivität und wie viel Negativität braucht es? Ist die Positivität nur eine, wenn auch derzeit oft gewollte, Lüge? Ist Negativität nur vernichtend?

„Positives Denken macht krank“, meinte schon 1997 der deutsche Psychotherapeut Günter Streich in einer ersten weltweit umfassenden Kritik. Bekanntlich macht aber auch negatives Denken krank. Krisenbewältigung führt nur über die Anerkennung der Krise. Der Weg zum Gral bleibt nebulös. So symptomatisch wie seltsam scheint das coole, gelungene Bühnendesign der Verdesignung dieser Unauflöslichkeit zu entsprechen. Hin- und hergerissen zwischen zutiefst bitterem Drama und leichtfüßigem Schwank lohnt sich der Besuch.

Ralph Findeisen

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