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Kultur: Globetrotter in der Postkutsche

Lessing nachgereist: Eine fotografische Spurensuche von Sylke Kaufmann, Marion Kutter und Anne Hasselbach auch in Potsdam

Potsdam war für ihn eine einzige Tragödie. Sechs Wochen schrieb Lessing hier an seinem Trauerspiel „Miß Sara Sampson“, mit der er kurz darauf im Sommer 1755 das Premierenpublikum in Frankfurt/Oder zu Tränen rührte. Zwei Liebende sterben: die eine von der Rivalin vergiftet, der andere durch eigene Hand erdolcht. Geistig hatte der junge Autor für diesen theatralen Dauerbrenner allerdings nicht das frühlingshafte Potsdam, sondern einen düsteren Gasthof in England vor Augen. Mit den Liebenden auf der Flucht.

Und da treffen sich vielleicht auch das Leben und die Literatur: denn auch Lessing war ein ewig Fliehender. In dem Buch „Lessing nachgereist“, das gerade vom Lessing Museum in Kamenz, seinem Geburtsort, herausgebracht wurde, begeben sich die Autorinnen Sylke Kaufmann und Marion Kutter gemeinsam mit der Fotografin Anne Hasselbach auf eine fotografische Spurensuche und erkunden über 20 Orte, an denen Lessing geweilt hat. Auch in Potsdam wurden sie fündig, wenn auch nur drei der 240 Seiten seinem Aufenthalt in der Havelstadt gewidmet sind. Und die erzählen ausschließlich über „Miß Sara Sampson“, die im heute nicht mehr bestehenden Gartenhaus des Sommerschlosses des Marquis d’Argens in der Zeppelinstraße 167 entstanden ist, was allerdings im Buch nicht nachzulesen ist. Dafür aber, dass er „Miß Sara“ in „einem Feuer“ ausarbeiten wollte und an nichts weiter dachte. „Denn die Musen verlangen Einsamkeit und Muße für den Dichter“, schrieb Lessing.

Als er acht Jahre später in Begleitung des preußischen Generals Friedrich Bogislaw von Tauentzien Potsdam wiedersah, mag er vielleicht mehr Muße gehabt haben, um sich an die frischen Fassaden der Bürgerhäuser oder an das Sommerschloss Sanssouci und den neu angelegten barocken Ziergarten zu erfreuen, mutmaßen die Autorinnen und füllen mit ebendiesen fotografischen Ansichten den Potsdam-Exkurs. Tiefer steigen sie nicht ein in sein Leben, können sie wohl auch nicht, angesichts der Unrast des Dichters und des eigenen Zeitlimits, denen sich die Autorinnen ausgesetzt sahen. Lessings Lebensweg dauerte 53 Jahre. Für die Fotografin Anne Hasselbach hieß es, dieser Zeit in nur drei Monaten nachzugehen. „Gerade hatte ich eine Stadt besucht, lag das Zugticket für das nächste Ziel schon bereit.“ Anfangs sei es ihr schwer gefallen, sich auf die jeweiligen Orte einzulassen, und in der Kürze der Zeit den Geist Lessings aufzuspüren. Dann war ihr wieder so, als stünde der Literat mit roter Samtjacke und Spitzenjabot neben ihr und zeigte ihr seine vertrauten Lebenskreise und malerischen Lebensräume. Wenn es nichts Gebautes aus Lessings Umfeld mehr gab, baute die Fantasie dem Auge Brücken. Dann war es vielleicht das Blatt im Wind, das auch schon vor über zwei Jahrhunderten wie zufällig vor Lessings Füße fiel, das der Fotografin gedanklich auf die Spur half.

Das Buch fängt Streiflichter ein, Gedankensplitter, Briefauszüge. Auch bildlich geht es oft um Impressionen. Und es gibt immer wieder „Bänke“, auf denen man schwelgerisch in die Atmosphäre der Zeit eintauchen kann. Wenn man sich nicht von der Atemlosigkeit des Non-Stop-Trips anstecken lässt.

Leben bedeutete für Lessing Unterwegssein. Trotz der Anstrengungen und unliebsamen Zwischenfälle, die ihm oft in den Postkutschen widerfuhren. „Mehr als sechsmal bin ich umgeschmissen worden, und mehr als zehnmal stecken geblieben“, schrieb er über die Reise-Tortur von Wolfenbüttel bis Leipzig. Er nahm es stoisch in Kauf, um seinen Horizont zu erweitern und Freunden zu begegnen, die er dann ohne Andeutung eines Abschieds wieder wie ein Fliehender verließ.

In Potsdam hielt es ihn immerhin sechs Wochen – mit einem jahrhundertelangen Nachspiel. Denn bis heute sorgt sein bürgerliches Trauerspiel für Rührung. Vielleicht so wie damals, als 1755 der Dichterfreund Karl Wilhelm Ramler an Johann Wilhelm Ludwig Gleim schrieb: „Die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde, stille geseßen wie Statüen, und geweint“. Und dieser ihm antwortete: „Was für ein fürtreflich Stück ist Sara Samson! Ich habe es einem Domherren vorgelesen, und so gar der muste weinen!“ Wenn das kein wahres Theater ist.Heidi Jäger

Sylke Kaufmann, Marion Kutter, Anne Hasselbach, Lessing nachgereist, eine fotografische Spurensuche, 29 Euro

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