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Geplante Ausstellung in Potsdam: Die vielen Gesichter des Deserteurs

Jeanette Toussaint plant eine Ausstellung zu „Fahnenflucht in Potsdam“. Noch fehlt aber das Geld.

In dem gleichnamigen Stück stellt der Liedermacher Franz Josef Degenhardt die „Befragung eines Kriegsdienstverweigerers“ nach. Neben unterschiedlichen Fragen zu Glauben und Gewissen muss der Delinquent auch folgendes, oft zitiertes Gedankenexperiment über sich ergehen lassen: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit ihrer Freundin durch einen Wald. Plötzlich springt eine Horde Angreifer in der Absicht aus dem Gebüsch, Ihrer Freundin Leid zuzufügen. Zufällig haben Sie ihre geladene Maschinenpistole dabei. Was machen Sie?“ Diese, zumindest in der Bonner Republik, regelmäßig gestellte Frage entschied neben anderen, ob es einem jungen Menschen zuzumuten sei, im Rahmen des Militärdienstes eine Waffe zu tragen und diese im Fall der Fälle auch gegen einen anderen Menschen einzusetzen.

Immerhin gab es in der BRD das Grundrecht, den Kriegsdienst an der Waffe zu verweigern. Diese stand vorangegangenen Generationen junger Männer nur selten offen: Diejenigen, die sich nicht freiwillig – oder zumindest widerstandslos – rekrutieren ließen, wurden unter Zwang, durch Überlistung oder mit Hilfe von Alkohol dem Militär zugeführt. Nicht wenige desertierten.

Ein vom „Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam e.V.“ für 2019 geplantes Ausstellungsprojekt unter Leitung der Ethnologin Jeanette Toussaint soll nun der Frage nachgehen, welche sozialen, kulturellen, juristischen und moralischen Konsequenzen die Desertation, das unerlaubte Fernbleiben von der Truppe, hat. Ausstellungsort könnte am Deserteursdenkmal am Platz der Einheit sein. Doch erst muss der Verein bei Stadt und Land noch Geld dafür einwerben. Das Projekt gliedert sich in drei Teile: Die Etappen 1713 bis 1918, 1918 bis 1945 und 1945 bis 1990. Am Donnerstagabend gab Toussaint im Filmmuseum Einblick in ihre Arbeit, die bisher vor allem die am wenigsten erforschte Etappe von 1713 bis 1918 umfasst.

Dafür arbeitet Toussaint insbesondere mit historischen Quellen und Zeitdokumenten, die sie in Archiven und Museen Potsdams sichtet. Durch die Rekonstruktion etlicher Einzelschicksale arbeitet sie die Sozialfigur des Deserteurs heraus und gibt so einem Phänomen viele Gesichter. Junge Männer, die in Frauenkleidern wegen unmenschlichen Drills, schlechter Bezahlung, schlechter Versorgung oder – noch schlimmer – der Gewalt durch Vorgesetzte und Kameraden aus den Kasernen fliehen, die in Dörfern Unterschlupf suchen und von Bauern festgenommen und gegen Belohnung ausgeliefert werden: Sind sie Helden, weil sie sich gegen Krieg und Militarismus positionieren, oder sind es Verräter, weil sie ihre Kameraden im Stich lassen? Die Strafen für ihre Taten sind in jedem Fall drakonisch: Sie reichen vom Entzug des Vermögens und der Lebensgrundlage über Spießrutenläufe bis hin zur Todesstrafe. Es werden aber nicht nur die Fahnenflüchtigen selbst, sondern auch ihre Helfer zur Verantwortung gezogen und mit Haftstrafen belegt. Auffällig ist, dass die Geschichte und Entwicklung der Wehrpflicht mit der des Beamtenwesens korreliert. Der Übergang von der Söldnerarmee hin zum stehenden und kasernierten Heer etabliert ebenfalls einen Beamtenstand, dessen Aufgaben von der Registratur der Wehrpflichtigen bis hin zur Verurteilung Fahnenflüchtiger reichen.

Toussaint bezieht auch künstlerische Adaptionen des Themas Desertation in ihre Recherche ein. So waren am Donnerstag im Filmmuseum Kurzfilme zu sehen, die auch in der Ausstellung Platz finden könnten. So zum Beispiel „Josefs Brüder“ (2005), der neben der Frage nach der Verantwortung der Zivilgesellschaft auch die Frage nach der Verantwortung des Deserteurs gegenüber seinen Kameraden im Feld verhandelt.

Der auf einer wahren Begebenheit beruhende 14-minütige Film von Philipp Clarin zeigt einen vor seinen Häschern fliehenden Soldaten, der Zuflucht in einem abgelegenen Bauernhaus findet. Die dort mit der Tochter lebende Bäuerin, deren Sohn vor Stalingrad liegt, weigert sich zuerst, ihn aufzunehmen, gibt dann aber dem Willen ihrer Tochter nach und konfrontiert schließlich den Versteckten mit dem ungewissen Schicksal ihres Sohnes.

Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, was zu tun ist, wenn der eigene Partner nur durch Waffengewalt beschützt werden kann, ist nicht beantwortbar. Darin zeigt sich ihre Perfidie: Wiegt ein Leben mehr als das eines anderen? 

Christoph H. Winter

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