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Musik fühlen. Der Komponist Helmut Oehring (r.) wuchs als Kind gehörloser Eltern auf. Im Auftrag der Kammerakademie Potsdam (KAP) hat er nun ein Werk komponiert, das mit gehörlosen Geflüchteten auf die Bühne gebracht wird. „Orfeo17“ hat am Samstag Premiere, es dirigiert KAP-Chefdirigent Antonello Manacorda (l.).

© Ronny Budweth

Gehörlose Flüchtlinge: Die Zeichen der Finsternis

Hochambitioniert und hochaktuell: Helmut Oehrings Werk „Finsterherz oder Orfeo17“ wird am Samstag von der Kammerakademie Potsdam, Solisten und gehörlosen Geflüchteten uraufgeführt.

Potsdam - Zur Sprache der Zeichen hat Helmut Oehring ein besonderes Verhältnis: Der Komponist, in Berlin geboren, wuchs als Sohn gehörloser Eltern auf. „Meine Muttersprache ist die Gebärdensprache“, sagt der 56-Jährige. „Die Zeichensprache ist die Mutter aller Sprachen. Sie hat vor Urzeiten bereits jeder verstanden, bevor sich mit Lauten und Wörtern verständigt werden konnte.“

Erst mit vier Jahren erlernte Oehring in einer fremden Familie die Lautsprache. Mit dieser Herkunft erklärt Oehring seinen Sonderweg als Komponist, der keiner Schule zuzurechnen ist. Erst mit 25 Jahren brachte er sich selbst das Notenlesen bei, studierte an keiner Musikhochschule, ist Autodidakt und gehört heute zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Komponisten Deutschlands.

Musik, Gebärdensprache, Weltliteratur und Weltgeschehen vereint

Mit seinem neuen Werk „Finsterherz oder Orfeo17“ hat der in der Märkischen Schweiz lebende Helmut Oehring eine Komposition erschaffen, die Musik, Gebärdensprache, Weltliteratur und Weltgeschehen vereint. Es ist ein szenisches Konzert auf Claudio Monteverdis Oper „L’Orfeo“ und die Erzählung „Heart of Darkness“ – „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad. Beide Reiseberichte – die des Sängers Orfeo, der durch den Biss einer Schlange den Tod seiner Frau Euridice beklagen muss, sowie Kapitän Marlowes Reise in das vom Kolonialismus geplagte Belgisch-Kongo in Westafrika, wo er das Herz der Finsternis kennenlernt – gaben Helmut Oehring wesentliche Inspirationen, um sie weiter zu denken und ins Heute zu transportieren.

Conrad hat mit „Das Herz der Finsternis“ die Matrix vieler Afrika-Romane geschrieben, den Mythos und das Muster des weißen Wahns im schwarzen Kontinent eindrücklich entlarvt. In Conrads Roman stehen die Plünderung vor allem von Kautschuk sowie der Genozid an den Ureinwohnern auf der Tagesordnung. Und Monteverdi verarbeitet in seiner Oper Orfeos Erfahrungen im Reich der Toten: „Bittere Leiden muss Orfeo in der Unterwelt erleiden. Die Erlösung seiner Frau Euridice gelingt am Ende nicht. So muss er einen doppelten Verlust beklagen. Von den Erlebnissen des Grauens im Totenreich wird Orfeo, begleitet von der Lyra, den Lebenden erzählen“, sagt Helmut Oehring. „Mich erinnert der antike Sänger daran, dass auch heute bedeutende Sänger mit ihren Gitarren unterwegs sind, ihre Geschichten zu erzählen. Ich denke auch an Bob Dylan, Michael Jackson oder Victor Jara, den 1973 die putschenden Militärs in Chile folterten, der dennoch weitersang, bis er ermordet wurde.“

Acht gehörlose Flüchtlinge und die Sehnsucht, ohne Krieg zu leben

In „Finsterherz oder Orfeo17“ werden Gebärdendolmetscher auf der Bühne stehen. Sie übersetzen das musikalische und inhaltliche Geschehen für Gehörlose, aber auch die autobiographischen Erzählungen von acht gehörlosen Flüchtlingen – für das hörende Publikum. Die Flüchtlinge kommen aus Afghanistan, Syrien und der Kaschmir-Region. Sie werden berichten von ihrer Sehnsucht ohne Krieg und Zerstörung leben zu können, von den furchtbaren und schmerzlichen Erlebnissen während der Flucht nach Europa, von der Hoffnung auf Asyl. „Diese Menschen haben die Finsternis erlebt. Sie haben ein Recht, auf ihre Weise dies zu erzählen, eben mit Gebärden“, sagt Oehring.

Die Kammerakademie Potsdam hat die Komposition bei Helmut Oehring mit dem Libretto von Stefanie Wördemann und der Audio- und Zuspielkonzeption von Torsten Ottersberg in Auftrag gegeben. Alle drei arbeiten seit mehr als zehn Jahren zusammen, für zeitgenössische Musiktheaterproduktionen im In- und Ausland. Neben der Kammerakademie werden renommierte Vokalsolisten, wie der Performer David Moss oder der Kontrabassist Aleksander Gabrys, den musikalischen Part übernehmen. Am Dirigentenpult steht der Chef des Potsdamer Klangkörpers, Antonello Manacorda.

Exil-Musiker aus Syrien und Afghanistan

Claudio Monteverdis „L’Orfeo“ wurde vor 410 Jahren in Mantua uraufgeführt und gilt als eine der ersten Opern der Musikgeschichte. Der Komponist gehörte zu den experimentierfreudigsten und offensten Musikern, die es gab. Er betrat mit seinen Opern völliges Neuland und nahm sich in der Komposition alle nur denkbaren Freiheiten. Nikolaus Harnoncourt, der bedeutende Kenner und Dirigent historischer Musizierpraxis, meinte: Monteverdi sei ein erbitterter Feind alles Antiquierten gewesen.

Ähnlich wie Monteverdi zu seiner Zeit gehört Oehring keineswegs zu den Puristen. Doch die historisch informierte Aufführungspraxis ist seine Sache nicht. „Das ist für mich museal, ein Rückgriff auf die Vergangenheit“, meint Oehring. Stiloffenheit und die Konfrontation verschiedener Theater-, Musik- und Kunstformen unserer Tage in einem einzigen Stück zu vereinen, gehören zu den Konstanten in Oehrings Werken. Man darf gespannt sein auf diese vielschichtige Begegnung zwischen der Kammerakademie Potsdam, den Interpreten, zu denen auch Exil-Musiker aus Syrien und Afghanistan gehören, und den gehörlosen Geflüchteten.

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