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Kultur: Gefühle auf dem Seziertisch

Die deutsche Erstaufführung von „Der Sicherheitsabstand“ sorgt für Gänsehaut

Die Bühne gibt den Blick frei auf eine weite, kühle Wohnlandschaft. Nichts Anheimelndes ist auf diesem sterilen, grau-weißen „Spielfeld“ auszumachen: außer die zwei Kaninchen, die hinter Glas ihre gemütliche Tobewiese haben. Es ist possierlich mit anzusehen, wie sie Haken schlagen und sich immer wieder aneinander kuscheln. So haben es Sie und Er sicher auch einmal getan, bevor die Liebe füreinander verschütt ging. Nun stehen sie da – jeder für sich – in diesem einstigen gemeinsamen Zimmer, das zum Seziertisch ihrer Gefühle geworden ist. Wie Tiger auf der Lauer beobachten sie einander, um im entscheidenden Moment zuzupacken. Jeder wartet nur darauf, aus dem Satz des anderen einen falschen Unterton heraus zu hören. Sie kennen sich genau, wissen um die Schwachpunkte des anderen, die Wunden, in die es sich so trefflich bohren lässt.

Das Stück „Der Sicherheitsabstand“ des Franco-Kanadiers Frédéric Blanchette, das am Freitag im Hans Otto Theater zur deutschen Erstaufführung gelangte, ist ein subtiles Spiel voller Leidenschaft und Aggression. Jacqueline Macaulay und Tobias Rott wissen dieses herzzerreißende Pingpong-Spiel um die Rechte an dem gemeinsamen Kind brillant zu schlagen. Sie kosten die Worte aus, würzen sie mit Sarkasmus und Distanz, und Er auch immer wieder mit traurigem Humor.

Anfangs geht es nur um die Klärung der Konten. Sehr schnell wird klar: Hier steht eine messerscharf denkende Frau einem Mann gegenüber, der aus dem Bauch entscheidet. Er hasst es, dieses Analytiker-Zeugs aus den Büchern seiner Frau. Sie spricht zu ihm wie ein Lehrerin zu seinem Schüler, der die Hausaufgaben nicht gemacht hat. Noch gibt Sie die Verständnisvolle, die alles friedlich austragen will. Doch die Sonntage, an denen beide zusammenprallen, wenn er den Jungen wieder bei der Mutter abliefert, bergen immer neues Konfliktpotential. Mal bringt er das Kind nicht pünktlich genug, dann wieder überpünktlich zurück, dann gibt er ihm Pommes statt Vollwertkost zu essen – ja schließlich schlägt er ihn sogar. Aus einem Klaps auf den Po, den auch sie öfter verteilte, als die gemeinsame Welt noch heil zu sein schien – wird auf einmal der Grund, dem Vater das Sorgerecht zu entziehen.

Ist es Bosheit? Nein, man glaubt ihr, dass sie sich um ihr Kind ängstigt, nachts nicht schlafen kann, wenn es nicht bei ihr in mütterlicher Obhut ist. Schließlich gibt es da auch noch eine neue Partnerin, so wie sie allerdings auch das Bett inzwischen mit einem neuen Mann teilt (André Kaczmarczyk).

Es gibt verschiedene Arten, Kinder groß zu ziehen, glaubt der Vater. Doch sie ist sich sicher, dass nur ihre Art die allein Richtige ist. Existiert zwischendrin noch einmal so etwas wie sexuelle Begierde, die sie wild und unbedacht ins Stroh der Kaninchen treibt, bleibt am Ende nur noch der pure Hass.

Die so präzise und nuancenreich geführte Inszenierung von Petra Luisa Meyer hört dort auf, wo noch Schlimmeres folgen könnte. Man hat Mitleid mit diesem Mann, dem sein Kind weggenommen werden soll. Er wollte alles gut machen, aber es war eben nicht gut genug. Jedenfalls in den Augen seiner Frau. Und die sitzt am längeren Hebel. Die Löwin gibt kein Pardon. Durchbrach sie in ihrer Weinseligkeit auf dem Geburtstag des Kindes den Sicherheitsabstand und ließ alte Gefühle aufwallen, ist nun endgültig Eiszeit angesagt.

Es ist keine große Handlung, die dem Zuschauer präsentiert wird, und doch eine ganze Welt, eine, die auf tönernen Füßen steht. Auch Trennungsunerfahrene werden sich hier und dort wieder erkennen in den verbalen Schlachten, die feine Prisen Salz in die Wunden streuen. Dieses Stück erinnert an „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ und zeigt doch noch mehr: den Beziehungswahnsinn, der besondere Blüten treibt, wenn es die Sorge um ein Kind einschließt. Verdienter Beifall für zwei facettenreich auftrumpfende Schauspieler und einem kleinen Inszenierungsteam, das den Besucher mit Gänsehaut in den späten Abend entlässt. Heidi Jäger

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