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Kindertragödie. Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ erschien 1891, vor Eintritt all der Feldversuche der Befreiung des bürgerlichen Subjekts. Auch heute sind Jugendliche nicht glücklicher, wie die Adaption von Nuran David Calis im Hans Otto Theater zeigt.

© promo/Böhme

Kultur: Freie pubertierende Radikale

„Frühlings Erwachen“ in der Adaption von Nuran David Calis hatte Premiere am Hans Otto Theater

„Wenn du jetzt gehst, kehrt der Zweifel zurück. Und der Zweifel bringt mich um.“ Das sagt Wendla, bevor Melchior davonzieht, was sie dazu bringen wird, sich eine Flasche in den Bauch zu rammen, um ihre Schwangerschaft auszulöschen. Das Embryo zu töten. Leben zu vernichten. Dabei ging es genau darum, in dieses Leben aufzubrechen. Es zu verstehen. Seine Rolle zu finden. Vielleicht eine Identität zu haben. Möglicherweise sogar glücklich zu werden.

Doch der überstrapazierte Glücksbegriff taucht in „Frühlings Erwachen (Live Fast – Die Young)“, dem neuen Stück am Hans Otto Theater, inszeniert von Andreas Rehschuh, nicht einmal auf. Liebe wäre vielleicht das utopische Modul, um den psychosozialen, quasi sexualpathologischen Zerwürfnissen zu entkommen. Oder besser ihnen angemessen zu begegnen. Doch es bleibt ein kulturpolitisches Desaster, bei dem man nicht weiß, wen man mehr bedauern soll, die jugendlichen, suizidalen (Schein-)Rebellen oder je nach den bemühten oder weniger bemühten Eltern respektive die Gesellschaft.

Die verwendete Textfassung ist eine Adaption von Nuran David Calis nach Frank Wedekinds Skandalstück aus dem Jahr 1891. Aufgeführt wurde die „Kindertragödie“, so der damalige Untertitel, erstmals 1906 in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt. Darin geht es um eine Clique Jugendlicher, die in den Wehen der Pubertät ihre Sexualität entdeckt und an den moralischen Beschränkungen einer bürgerlichen Gesellschaft scheitert. Diese Gesellschaft war männlich-patriarchalisch gestrickt und verfügte über klare Rollenzuteilungen in Bezug auf Arbeit, Besitztum und Sexualität. Soweit der einvernehmliche Kanon. Die Grundkoordinaten von Pubertät und Ansprüchen an das Leben, die auch das natürliche Recht auf Verdrängung der älteren Generation beinhalten, sind geblieben. Dazwischen jedoch hat sich in den etwas mehr als 100 Jahren, die seitdem vergangen sind, reichlich viel verändert.

Wedekind schrieb „Frühlings Erwachen“ vor Eintritt all der Feldversuche der Befreiung des bürgerlichen Subjekts: durch den Kommunismus, den Rock ’n’ Roll, die sexuelle Revolution und - nicht ganz unerheblich - die Kommunikation. Letztere, so der Verdacht, erzeugt Rauschen, einen Zustand von medialer Taub- und Blindheit. Die Formen der Befreiung ihrerseits scheinen zunehmend das Potenzial von Restriktionen in sich auszubilden. Ganz davon zu schweigen, ob diese Kommunikation überhaupt noch Menschen braucht, das leidende und liebende Ich, egal welchen Alters.

Sind die Nöte heutiger Pubertierender dringender als zu Wedekinds Zeiten? Sind sie aussichtsreicher? Ist das verbale und gestische Miteinander unter Jugendlichen brutaler, desillusionierter geworden? Eigentlich sollte es anders sein. Bei all dem Konsum, den Bildungsmöglichkeiten, dem Spaß, kurz: Bei allem, was diese Nachkriegsgesellschaft zu bieten hat, sollten deren Kinder glücklich sein.

Sind sie aber nicht. Verunsichert, teils depressiv, unter Leistungsdruck stehend, retten sie sich in selbstverordnete, nietzscheanische Propaganda: Ich muss noch mehr lernen, den Notenspiegel verbessern, was ich tue, ist zu wenig. Sie träumen scherzhaft von Hunger und Armut und fragen sich angesichts menschlicher Regungen, ob Scham angeboren ist. Sie bezweifeln die Wirkung von Hilfsorganisationen, vollziehen sinnlose Mutproben und sind heillos in die zynisch-sarkastische Version ihres Selbst und ihrer Umgebung verstrickt. Das oftmals grausame Spiel mit den neuen sozialen Medien, das zu Mobbing, Erpressung und Entblößung führt, bildet die Plattform für alles Geschehen.

Nuran David Calis, der vielfach ausgezeichnete Autor mit türkischen, armenischen und jüdischen Wurzeln, weiß, wovon er spricht. Mit Jugendlichen entwickelte er in Problembezirken in Essen und Hannover Geschichten und Stücke. Kompliziert wird es in seiner Adaption, wenn sich die grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen mit individuellen Konstellationen überlagern, wie bei Martha, deren Eltern gewalttätig sind und die Antipoden gegenüber den sorgsamen Eltern aus der Mittelschicht abgeben, die für ihre Kinder immer alles Gute wollen. Was allerdings bei Wedekind in gewisser Weise schon ganz ähnlich war.

Das Paradox der modernen Kunst im Allgemeinen besteht darin, das Grauen mit den Mitteln der Unterhaltung zu erzählen. Und so macht es großen Spaß, den Schauspielstudenten von der Filmuniversität Babelsberg bei ihren Prozessen des Leidens, der Verzweiflung und des sporadisch aufkeimenden Hoffens zuzuschauen. Beim Film würde man sagen: perfektes Casting.

Andreas Rehschuh, neben der Regiearbeit auch für die Bühne verantwortlich, setzt das dezent wie dringlich in Szene. Videoprojektionen mit identitätsauflösenden Doppelbildern und Deutsch-Hip-Hop rücken die freien, pubertierenden Radikalen in die unmittelbare Gegenwart. Dabei stößt Theater auch an seine Grenzen. Utopieunfähigkeit trifft auf ausgereifte bürgerliche Ästhetik.

Am Ende kehren alle Fragen wieder. Moritz ist vom Dach gesprungen. Tot. Wendla, zumindest in der Originalfassung nach einer Fremdabtreibung und hier nur zu vermuten, auch tot. Melchior hat naiv wie überheblich seine Vaterschaft abgelehnt. Die Liebesangebote sind nicht in Erfüllung gegangen. Die Verwirrungen, was in diesem Leben zu erwarten ist, erscheinen groß. Hypertroph. Wer trägt Schuld? Und wenn es Schuld gibt, die mythische, christliche Schuld, was kann man tun, um entschuldet zu werden? Um vielleicht doch, abseits von Verzweiflung, lieben zu können. Um für den Aufwand, den man als Jugendlicher betreibt, Identität und sexuelle Veranlagung hin oder her, Belohnung zu erfahren. Nicht zuletzt, um, wie man gern etwas despektierlich sagt, aus der Komfortzone zu gelangen und die Verwöhnung zu hinterleuchten. Noch endet jede Biografie, wenn sie nicht vorzeitig abgebrochen wird, in der Verantwortung.

Ralph Findeisen

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