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Kultur: Fragmentarische Momentaufnahmen

In der „ae-Galerie“ stellen zehn Fotografen aus der Klasse „Fotografie im Prozess“ ihre Bilder aus

Zur Vernissage konnte man vor lauter Besuchern kaum die Bilder sehen. Warum so viele kamen, lässt sich damit erklären, dass in den zwei kleinen Ausstellungsräumen von Angelika Euchner zehn Fotografen gemeinsam eine Ausstellung bestreiten. Sie sind Teilnehmer der Fotoklasse „Fotografie im Prozess“, die von Frank Gaudlitz und Andreas Rost seit 2011 geleitet wird. Der älteste Schüler ist Karl Böttcher, Jahrgang 1949, die jüngste Teilnehmerin ist Kristina Frick, Jahrgang 1980.

44 Bilder hängen an den Wänden und im ersten Raum gibt es außerdem eine weiße Stele, die die Arbeiten von Karl Böttcher und Thierry Motard beherbergt. Erster hat eine Foto-Video-Installation mit dem Titel „Flug AA 11“ beigesteuert und Motard hat seine Fotoinstallation als Peep-Show inszeniert. Doch bevor man sich mit diesen Arbeiten befasst, zieht unweigerlich die Installation von Wenke Seemann die Blicke auf sich. Auf drei Borden übereinander hat die in Berlin lebende Fotografin und Sozialwissenschaftlerin Bilder von Frauen dreier Generationen angeordnet. Man erfährt im nebenstehenden Text, dass die drei Porträtierten Großmutter (84), Mutter (56) und Tochter (26) sind und in Indien leben.

Wenke Seemann hat sie dort in ihrer alltäglichen Umgebung getroffen und gebeten, sich selbst mit einer Kamera mit Selbstauslöser zu fotografieren. Diese Bilder erzählen die Emanzipations-Geschichten dreier Frauengenerationen und sie sind Teil der Serie „Eigensinn“, für die die 36-jährige Fotografin Frauen in Algier, Kyoto, Berlin und in Chennai in Indien besucht hat. Großartig, in welchem Moment und mit welch unterschiedlichen Haltungen sich die Porträtierten selbst abgelichtet haben und wie viele Details schon aus ihrer Kleidung oder ihrer unmittelbaren Wohnumgebung abzulesen sind. An diese interessante Arbeit, von der man unbedingt mehr sehen möchte, schließen sich fast nahtlos fünf schwarz-weiße Porträtfotos mit dem Titel „Marktwirtschaft“ an.

Hans Hochheim, 1951 geboren, hat dort jüngere und ältere Frauen porträtiert, die auf Märkten in Novosibirsk als Verkäuferinnen arbeiten. Auch sehr lebenspralle, analoge Aufnahmen aus einer exotischen Umgebung, die die Porträtierten in ihrer Individualität einfangen. Viel schwieriger ist so ein Unterfangen, wenn man wie Gustav Rausch (Jahrgang 1961) jeden Tag mindestens eine Schwarz-Weiß-Aufnahme in Berliner Verkehrsmitteln macht. Dort den Blick für das Besondere zu schärfen scheint mühsamer als in einer fremden Umgebung. Und doch fängt Rausch ein Stück Alltag ein, der seine eigenen Geschichten erzählt. Gleiches gilt für die beiden Fotos von Anna Kress, die nachts am Wittenbergplatz entstanden.

Völlig anders arbeitet die Jüngste der Fotoklasse, Kristina Frick. Sie erschafft Bilder, „die wie aus Ausschnitte aus einer Geschichte wirken ... Der Betrachter soll die Poesie und nicht zwangsläufig die Realität einer Situation erleben dürfen.“ Ihre ganz in Blautönen gehaltene sechsteilige Serie zeigt eine Strandgesellschaft, die vor den Augen des Betrachters zu verschwimmen scheint. Die Fotografin arbeitete mit abgelaufenen Filmen, einer defekten Kamera und Doppelbelichtung, sodass diese Fotos fast wie Gemälde wirken. Sie fallen, genauso wie die Arbeiten von Constantin Köster „Styx“, deutlich aus dem Rahmen dessen, was die Arbeiten der anderen zeigen. Bei beiden beherrscht Fiktion und nicht die Realität die Szene.

Eine überraschende Verbindung gehen beide Elemente in den fotografischen Puzzleteilen von Annette Rausch ein, die seit 2013 Straßenfeste in Berlin fotografiert. Rausch zeigt farbenfrohe Details von Dekorationen, Kleidung oder Schmuck, wie sie in der Berliner lesbisch-schwulen Szene oder auf einem Weihnachtsmarkt zu finden sind. Diese fragmentarischen Momentaufnahmen setzen beim Betrachten einen ganz eigenen Film in Gang.

Dies gelingt auch Karl Böttcher, der 2013 in New York die Namen auf den Gedenktafeln am Ground Zero unter anderem mit Sequenzen aus dem öffentlichen Nahverkehr verbindet. Seine Spurensuche zwischen den Zeiten zeigt, wie bruchstückhaft Erinnerung und wie konsequent Fortschritt die Bilder von 9/11 immer weiter abschmirgelt. Diese wirken heute – trotz der Erschütterung, die sie damals auslösten – wie die in goldenen Lettern auf weißem Marmor verewigten Namen der Opfer.

Diese Ausstellung in der „ae-Galerie“ ermöglicht mit ihren verschiedenen inhaltlichen und formalen Facetten einen spannenden Einblick in zeitgenössische Fotografie; sie zeigt Prozesse in dieser Gruppe, zu der auch noch Arne Zwirner gehört, und sie gibt jedem der Ausstellenden – trotz Platzknappheit in der Galerie – doch genügend Raum, den eigenen Prozess als fragmentarische Momentaufnahme abzubilden. Astrid Priebs-Tröger

„Fotografie im Prozess“ ist noch bis zum 11. Juni in der „ae-Galerie“, Hermann-Elflein-Straße 18, Mittwoch, Donnerstag, Freitag von 15 bis 19 Uhr, Samstag von 12 bis 16 Uhr zu sehen.

Astrid Priebs-Tröger

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