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Fotograf Frank Gaudlitz im PNN-Interview: „Weglaufen liegt mir nicht“

Der Fotograf Frank Gaudlitz ist in der Welt unterwegs, aber Potsdam nennt er „seine Mitte“. Jetzt wird er 60 und lädt zu einer 60-stündigen Feier in den Kunstraum ein. Ein Gespräch über seine Stasi-Akte, Russland-Abenteuer und persönliche Autonomie.

Schön, Herr Gaudlitz, dass Sie gerade Zuhause sind und Ihren 60. Geburtstag mit zwei Ausstellungen und einem großen Fest begleiten.

Es ist scheinbar ein verbreitetes Gerücht, dass ich immer weg bin. Stimmt aber nicht, obwohl meine letzte Reise tatsächlich erst wenige Wochen her ist. Zum Reisen gehört die Rückkehr, und ich erlebe hier gerade den beginnenden Frühling. Nach der Kälte in Moskau und St. Petersburg bei bis zu minus 19 Grad ein Geschenk.

Sie selbst schauen zurück auf ein erfülltes Leben, auf eine Bilderwelt, in der Sie Zerrissenheit und Umbrüche dieser Welt einfühlsam spiegeln. Ein Grund zum Feiern?

Als nach vielen Gläsern Sekt in Freundesrunde die Idee entstand, jedes Lebensjahr mit einer Stunde zu feiern, ahnte ich nicht, wie diese Idee in mir nachhallen wird. 20 Jahre habe ich meinen Geburtstag ignoriert, jetzt echot die 60 zurück in meine innere Befindlichkeit. Da hilft dann nur Wegtanzen, 60 Stunden lang.

Sie erzählen in Ihren Fotoserien sehr eindrücklich über das Leben anderer: über das in Russland, in Osteuropa, in Südamerika. Worin sehen Sie das Besondere in Ihrem eigenen Leben?

Wenn ich zurückblicke, sehe ich zwei Aspekte, die mir interessant erscheinen. Zum einen, dass ich immer wieder Zäsuren machte: etwas aufgab, um Neues kennenzulernen, dass ich mich in der Unsicherheit wohl fühle. Und dass ich mir meine Unabhängigkeit bewahren konnte. Ich empfinde es als Glück, dass ich einen friedlichen Gesellschaftsumbruch miterleben durfte. Meine Sozialisierung im Osten ist wichtig für das, was ich heute bin. Den Winter hätte ich damals natürlich nicht, wie nach der Wende häufig, in Südamerika verbringen können.

Sie trauern der DDR also auch nicht nach.

Nein, natürlich nicht. Aber so wie das ideologische System des Sozialismus meine persönliche Autonomie nicht ernsthaft gefährden konnte, haben die Gesetze der Marktwirtschaft es ebenfalls nicht geschafft, mich zu korrumpieren.

Sie sprechen von Zäsuren. Welche gab es?

Ich bin von Beruf Maler und Fußbodenleger. Auf Dauer schien es mir nicht sehr spannend und so kündigte ich, ging in die finanzielle Unsicherheit und hatte lange Zeit keinen festen Job. Ich schnitzte Masken und Figuren und verkaufte sie auf Märkten.

Das hieß doch in der DDR „asozial“.

Um häufigen Rechtfertigungen vor den staatlichen Instanzen zu entgehen, nahm ich ein Studium am Institut für Heimerzieherausbildung auf. Für diese weiblich dominierte Ausbildung wurden Männer gesucht. Es war ein tolles und ausgelassenes Studium in einem Dorf bei Eilenburg: mit Fächern wie Künstlerisches Wort, Literatur- und Kunstgeschichte, Psychologie, Sport und Touristik und auch Fotografie. Meine Verweigerungshaltung, nach dem Studium in einem Lehrlingswohnheim in Thüringen zu arbeiten, brachte mich nach Stahnsdorf.

Das ging so einfach?

Es gab die Verpflichtung für Studenten, sich nach gesellschaftlicher Notwendigkeit einsetzen zu lassen. Aber wie hätten die Konsequenzen aussehen können, wenn man es nicht tat?

Und was erwartete Sie in Stahnsdorf?

Ich wurde Heimleiter im Lehrlingswohnheim des VEB Mikroelektronik. Dort installierte ich unter anderem eine Galerie, gab Fotokurse, hing das Bild von Erich Honecker im Clubraum ab und hatte sicher keinen autoritären Führungsstil. Meine Kollegen waren zumeist über 50 und Genossen der SED. Ich als ihr Vorgesetzter war nicht mal in der DSF. Das war für sie natürlich politisch und menschlich unerträglich. Jedenfalls wurde ich nach zweieinhalb Jahren von einem Tag auf den anderen vom pädagogischen Dienst suspendiert, nachdem ich eine Ausstellung mit dem Fotografen Matthias Leupold und der Gruppe „Nach uns die Zukunft“ zeigte. Die Fotografien hingen drei Tage, dann war die Stasi da und ich durfte abbauen und meine Sachen packen. Später, bei der Lektüre meiner Stasiakte, habe ich die Armseligkeit dieser IM’s erst wirklich begriffen: Sie wühlten in Papierkörben und verwandelten in ihren Berichten Banalitäten zu staatsfeindlichen Handlungen.

Haben Sie sich gegen die Kündigung gewehrt?

Ich versuchte, mich in den pädagogischen Dienst zurückzuklagen. Kein Anwalt war bereit, mir beizustehen. Die Partei verklagt man nicht. Fast eineinhalb Jahre war ich Don Quichotte.

Wie haben Sie eine neue Arbeit gefunden?

Natürlich war es eine schwere Zeit, existenziell, das Ministerium des Innern blockierte jede Einstellung, ob als Kulissenschieber bei der Defa und als Essensfahrer bei der Volkssolidarität. Und man signalisierte uns, dass die Wohnung verwanzt war. Interessant, was mit einem psychologisch passiert und wie sich unter diesen Bedingungen ein Familienleben organisiert.

Hat Sie das nicht verrückt gemacht?

Sicherlich, aber das ist auch nur ein Daseinszustand, und ich möchte solche Erfahrungen nicht missen. Dieses Problemlose, immer im gleichen, sicheren Lebensrhythmus verweilen, ist doch auf Dauer auch langweilig. Ja, es gab viele Tränen, Unsicherheiten, aber es war auch ein Lebensabenteuer. Man entdeckt neue Kräfte in sich. Das Unvorhergesehene, Ereignisse, die man nur bedingt beeinflussen kann und die auch schmerzen, zeigen doch, wie stark man ist. Die Behörden haben mir auch angeboten, mit meiner Familie in den Westen zu gehen. Ein absurdes Angebot, ich trage die Idee eines gerechteren Staates noch immer in mir, und Weglaufen liegt mir nicht.

Was half Ihnen gegen den Schmerz?

Als Selbsttherapie habe ich in dieser Zeit angefangen, ernsthafter zu fotografieren, inszenierte Akte im Potsdamer Abriss, die meine Bewerbung an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig erfolgreich werden ließen. So gesehen hat die Stasi Anteil daran, dass ich Fotograf wurde. Ironie des Schicksals, denn ich bin gern Fotograf.

Erstaunlich, dass Sie als Ausgestoßener überhaupt angenommen worden sind.

Von der Bewerbung habe ich nur wenigen erzählt. Nach meiner Immatrikulation hat die Parteileitung das VEB Mikroelektronik Stahnsdorf das Prorektorat schriftlich aufgefordert, mich zu exmatrikulieren, weil ich moralisch nicht würdig sei, im Sozialismus zu studieren. Die Hochschule informierte mich über diesen Brief und ließ ihn unbeantwortet. Das war 1987, ein tiefe Verbeugung vor dieser Autonomie.

Fühlten Sie sich an der Leipziger Kunsthochschule wohl?

Mit meinen Russlandfotos aus 1988/89 wurde ich in die Fachklasse von Arno Fischer aufgenommen. Ich schätzte ihn als Fotografen, mehr noch als Menschen. Er war eine Vaterfigur für mich. Wir blieben bis zu seinem Tod befreundet.

Sie erlebten auch immer wieder Skrupellosigkeit. So nach der Wende in der Potsdamer Birkenstraße.

Ich war dort der letzte Mieter in einem ehemaligen Mehrfamilienhaus der Gewoba. Der neue Eigentümer, ein Kieferorthopäde mit Praxis in Kleinmachnow, versuchte mich mit allen Mitteln zum Auszug zu zwingen. Durchgetretene Zimmerdecken, das Zerstören der Wasserleitungen und im Winter der Heizung, Falschaussagen, Überwachungskameras gehörten zu seinem Repertoire. Skinheads mit Rottweilern bedrohten mich und Freunde, die das Haus betraten. Sieben Prozesse musste ich gegen ihn führen, ohne Rechtsschutzversicherung. Er hatte nur seine Millionen, ich aber meinen Stolz. Auch den letzten Prozess vor dem Landesgericht verlor er. Doch dann bekam ich ein Stipendium, um auf Humboldts Spuren die Anden zu überqueren. Ich stand vor der Entscheidung: Weiter kämpfen oder mich der Kunst widmen? Ich entschied mich für Letzteres. In der Zeit danach fehlte mir etwas: diese tägliche Hochspannung.

Der Wohnungskampf hört sich an wie ein Psychothriller.

Über anderthalb Jahre sank die Spannung nicht ab. Ein intensives Erlebnis.

In Ihrer jetzigen Küche hängt neben einer Stilllebenfotografie vom Amazonas auch ein in Gold gerahmtes Bild einer russischen Banja. Wann schlugen Sie das erste Kapitel für Ihren Russland-Bildband auf, den Sie geplant haben?

Vor 30 Jahren. Innerhalb meines Kunststudiums schippte ich im Studentensommer im Ural Kabelgräben an der Erdgas- trasse und fotografierte die Menschen. Ihr Lächeln, ihre Frisuren, ihre Kleidung erzählen noch etwas vom Leben in der Sowjetunion während Perestroika und Glasnost.

Wie hat sich Ihre künstlerische Sicht im Laufe der Jahrzehnte verändert?

Mein Diplomthema war der Abzug der Russen aus Deutschland. Dann fotografierte ich fast ein Jahrzehnt den gesellschaftlichen Wandel in den 1990er Jahren in Russland. Obwohl Reformen neue Rechte und Freiheiten versprachen, war Rechtlosigkeit und Armut das Ergebnis für die meisten Russen. Chaos, Korruption und Auftragsmorde waren an der Tagesordnung.

Im Einzelnen, im Porträt, spiegelten Sie den Zustand der Gesellschaft?

Das war die Absicht. Ich glaube, dass ich sehr emphatisch bin und mitfühlen kann, weil ich selbst in existenziellen Situationen gesteckt habe. Meine Sympathie gehörte vor allem den Verlierern des Umbruchs.

Nach einer längeren Pause sind Sie jetzt wieder nach Russland gefahren. Was hat sich verändert?

Ich bin sehr unsicher hingefahren, wusste nicht, wohin es künstlerisch gehen kann. Entstanden sind Bilder, die Inszenierung und Realität verschmelzen lassen.

Keine Porträts mehr?

Ich versuchte Bilder zu finden, die die politischen Erscheinungen im jetzigen Russland symbolhaft aufzeigen. Ich habe eine größere Distanz gewählt, bühnenhafte Bildaufbauten. Die Fotografien wirken manchmal surreal, auch ironisierend. In Russland findet gerade ein Comeback der Heldenfiguren statt. Gagarin, die Kämpfer des großen Vaterländischen Krieges werden präsentiert auf Metrozügen, an Brandmauern. Bewusstmachen nationaler Stärke, Erziehung zum Patriotismus, die Stilistik gleicht der des Kommunismus. Das verändert natürlich auch die fotografische Arbeitsweise.

Zum Beispiel?

Bei einer Militärparade am Roten Platz hielt ich meine Kamera einige Minuten lang auf einen Polizisten, der zwei Meter vor mir den Aufmarsch abriegelte. Ich auf der anderen Seite des Gitters. Er drehte sich zwar immer wieder weg, musste aber Stellung halten. Das ist menschlich schwierig, aber um zu diesen symbolischen Bildern zu kommen, muss ich das aushalten. Der Polizist ist in erster Linie Staatsdiener, also auch Stellvertreter für eine Doktrin und erst in zweiter Linie der Junge, der in einer Uniform steckt.

Mit Russland verbrachten Sie Ihr halbes Leben.

Es ist mein erstes und längstes Projekt. Mit dem geplanten Buch schließt sich eine Klammer.

Ist es schwierig, die Reisen zu finanzieren?

Es kommt darauf an, wie man reist. Seit 1991 bin ich unabhängiger Fotograf. Ich schöpfe vor allem aus mir selbst. Ich kann anspruchslos sein, radikal gegen mich selbst, schlafe auf Reisen in Absteigen, benutze meine Füße oder die billigsten Transportmittel und trage meinen Rucksack. Dann ist die Fotografie wichtiger als ich selbst. Aber ich habe immer eine Rückfahrkarte.

Abenteuer durchziehen Ihr Leben. Ist es da nicht vergleichsweise langweilig, im Kulturland Brandenburg zu fotografieren?

Potsdam ist zunehmend meine Mitte. Einen gewissen Anteil an diesem Bewusstwerden hat die Auftragsarbeit für Kulturland Brandenburg, die ich seit vier Jahren realisieren darf. Es wäre langweilig, wenn jemand sagen würde, was und wie ich fotografieren soll. Aber bei diesem Job gewährt man mir eine große konzeptionelle Freiheit. Die Auseinandersetzung mit Menschen und Landschaft trägt sicherlich dazu bei, dass ich gern hier bin. Und durch diese Aufträge begegne ich auch wieder meinem Ursprung: dem Handwerk. Im letzten Jahr ging es um die Reformation, jetzt um Europa. Alles spannende Themen.

Was wünschen Sie sich zum 60.?

Keine Geschenke, am Jahresende ein Buch über 30 Jahre Russland. Ich starte für die Produktion dieses Buches ein Crowdfunding und hoffe, dass viele Menschen diese Kampagne unterstützen.

Drei Tage wird im Mai gefeiert und der Kunstraum zur Partyhochburg.

60 Stunden mit meinen Lieblingsbildern aus allen Projekten und einer Ausstellung der ungesehenen Bilder. Dazu Lesungen und Konzerte befreundeter Künstler und jede Nacht eine DJane. Dazu lade ich ein.

Das Interview führte Heidi Jäger.

Ab heute kann man das Crowdfunding für den Russland-Fotoband von Frank Gaudlitz unterstützen: unter der Adresse www.visionbakery.com/gaudlitz-russland. In den Bahnhofspassagen ist seit gestern die Gaudlitz-Fotoausstellung „wir erben. Europa in Brandenburg“ zu sehen. Seine Geburtstagsausstellung und Party im Kunstraum, Schiffbauergasse, ist vom 19. Mai, 00.01 Uhr, bis 21. Mai, 12.01 Uhr

Zur Person

Der Fotograf Frank Gaudlitz wurde 1958 in Vetschau geboren. Er ist Maler und Fußbodenleger, studierte Heimerziehung in Hohenprießnitz und Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig bei Arno Fischer.

Zu seinen Fotoprojekten gehören der Abzug der russischen Streitkräfte aus Deutschland, Fotografien aus Russland, „Warten auf Europa – Begegnungen an der Donau“, Fotografien aus den Inkastaaten und „Die Amazonen des Amazonas“. Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise, darunter 1993 den Brandenburg-Preis für Bildende Kunst und 2010 den Kunstpreis Fotografie der Land Brandenburg Lotto GmbH.

Gaudlitz hat drei Kinder und drei Enkel.

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