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Kultur: Flaneur zwischen Ost und West

Das Zentrum für Zeithistorische Forschung zeigt Fotografien von Rudi Meisel

Die Kanone auf dem Foto feuert mit voller Wucht. Davor steht ein Auto mit einem Mann auf dem Fahrersitz, der aufgeregt telefoniert. Eine militärische Szene, mit einem Hauch von amerikanischer Fernsehserie, das könnte der Betrachter auf den ersten Blick sehen. Doch der zweite Blick zeigt: Tatsächlich schießt nur das Rohr einer großen Landmaschine Heuballen auf ein Feld. Und der telefonierende Mann im Auto – ein landwirtschaftlicher Mitarbeiter vielleicht, mit Funkgerät statt Telefon, und wahrscheinlich geht er nur seiner alltäglichen Arbeit nach. Die Beschriftung verrät: Es ist nicht in Amerika, sondern 1980 in einem Dorf in der DDR.

Das Foto ist ein Motiv aus der Ausstellung „Landsleute 1977-1987“ des Fotografen Rudi Meisel – und der Überraschungseffekt charakteristisch für dessen Arbeiten. 2015 waren seine Bilder im Berliner C/O im Amerika Haus ausgestellt, aktuell ist noch bis zum 25. August 2017 in der Bibliothek des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) eine Auswahl davon zu sehen. Nach Potsdam kamen die Bilder durch Kurator und ZZF-Mitarbeiter Andreas Ludwig. Da es dort den Forschungszweig „Visual History“ –Visuelle Geschichte – gibt, habe es sich angeboten, die Fotos in ihrer Eigenschaft als Bildquelle zu zeigen, so Ludwig.

Rudi Meisel, 1949 in Wilhelmshaven geboren und als Reportagefotograf lange für den „Spiegel“ oder den „stern“ tätig, war in den 1970er- und 1980er-Jahren im Auftrag des „Zeitmagazin“ gleichermaßen in Ost- und Westdeutschland unterwegs, gemeinsam mit der Journalistin Marlies Menge. „Wenn sie ihre Interviews führte, hatte ich Zeit, spazieren zu gehen“, erzählt Meisel. „Wenn ich eine Szene interessant fand, habe ich sie fotografiert.“ So sind die Bilder eines Flaneurs – wie Kurator Luwig den Fotografen auch gerne nennt – entstanden.

Die Idee, die Fotos auszustellen, reifte mehrere Jahre lang in ihm, sagt Meisel. „In den 1990er-Jahren gab es viele Ausstellungen, die von oben herab auf die Menschen in der DDR blickten. Sie wurden als Opfer dargestellt, nicht als Menschen.“ Das wollte er nie und habe sich deshalb lange mit seinen Fotos zurückgehalten. Immer wieder habe er sich bei Freunden Rat eingeholt, ob man das einfach machen könne, die Bilder aus Ost und West nebeneinander zu stellen, ohne dabei zu starke Kontraste herzustellen.

Für das ZZF haben Meisel und Ludwig die Fotos zum Teil neu arrangiert, sodass weitere Sichtweisen möglich werden. Dem Betrachter wird schnell klar, dass die Motive in einer Vielzahl verschiedener Arrangements funktionieren würden. Und das ist auch ganz in Meisels Sinne. „Es gibt ja nie nur eine Sichtweise“, sagt er. Mit jedem Betrachter bekämen die Bilder neue Geschichten, weil jeder seine eigene Erinnerung einbringt. „Wir kommen alle drin vor“, ist er überzeugt.

Meisel ist gelungen, was ihm wichtig sei, wie er sagt: den Menschen in seiner Umgebung abzubilden. „Die Arbeit im Ruhrpott hat meinen Blick auf den ‚kleinen Mann‘ geschärft“, resümiert er. Und das sieht man. Seine Fotos werten nicht und verzichten darauf, mit Eindeutigkeit zu langweilen. Hier Osten, da Westen - das geben die Bilder bis auf ein paar wenige Ausnahmen nicht her.

Zwar sind die Bilder in Schwarz-Weiß ausgestellt, doch melancholisch sind sie nicht. Im Gegenteil, immer wieder muss man als Betrachter schmunzeln, zum Beispiel, wenn auf einem Bild eine heroisch dreinblickende Lenin-Büste zwischen spießbürgerlichen weißen Gardinen hervorlugt und auf dem Foto daneben ein junger Waver mit toupierten schwarzen Haaren am Ostseestrand frech in die Kamera grinst. Es gibt kaum ein Motiv, das nicht wenigstens einen Moment lang verwirrt oder verblüfft, bei dem man sich nicht fragt: Wo bin ich eigentlich gerade? In der DDR oder in der BRD, ist es 1978 oder 1985? Dass der Fotograf auf Erläuterungen – bis auf Ort und Jahr der Aufnahme – verzichtet, lässt dem Betrachter zusätzlich Raum für eigene Blickwinkel.

Den Charakter einer klassischen Ausstellung sollte man von der Schau im ZZF allerdings nicht erwarten – ein wenig muss man sich die Bilder zusammensuche, da sie verstreut im Seminarraum und in den Aufgängen der Bibliothek hängen. In ihrer Gesamtheit ist „Landsleute 1977-1987“ dagegen noch bis zum 15. Januar 2017 im Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus zu sehen.A. Lütkewitz

„Fotografien von Rudi Meisel. Landsleute 1977-1987“ in der ZZF-Bibliothek, Am Alten Markt 9d, bis 25. August 2017, Montag bis Donnerstag 10 bis 17 Uhr, Freitag 10 bis 15 Uhr, Eintritt frei

A. Lütkewitz

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