zum Hauptinhalt
Die elfjährige Amy (Fathia Youssouf) in "Mignonnes".

© Jean-Michel Papazian/Bien ou Bien Productions

Filmkritik: "Mignonnes" im Berlinale-Kiezkino: Auf der Suche nach falscher Liebe

Regisseurin Maïmouna Doucouré stellte im Potsdamer Thalia-Kino ihren Film "Mignonnes" vor, der eine überaus berührende Coming-of-Age-Geschichte zwischen aufkeimender Sexualität und tradierten Rollenbildern erzählt.

Von Sarah Kugler

Potsdam - Der Hintern muss wackeln. Nur leicht bekleidet und deutlich herausgestreckt: so wird er in diversen Musikvideos präsentiert. Die Tänzerinnen geben sich sexy dabei - und tausende Zuseher können sie im Internet bewundern. Amy, die Protagonistin in Maïmouna Doucourés Film "Mignonnes" (zu deutsch: "Die Süßen"), ist eine dieser Zuseherinnen. Sie ist 11 Jahre alt, gerade erst mit ihrer senegalesische Großfamilie nach Paris gezogen und versucht sich an der neuen Schule zurechtzufinden. Sie möchte dazugehören, vor allem zu der coolen Mädchenclique, die bauchfreie Tops und kurze Röcke trägt - und die für einen Tanzwettbewerb trainiert.

Eine Tanzaufführung war es auch, die Maïmouna Doucouré zu ihrem Film inspiriert hat, wie sie am Sonntagnachmittag im Babelsberger Thalia-Kino erzählt. Hier stellt sie den Film im Rahmen von "Berlinale goes Kiez" vor. Der große Saal des Kinos ist fast vollständig besetzt und zwar nicht von den typischen Thalia-Besuchern: Mehr als die Hälfte der im Saal sitzenden meldet sich auf die Frage, wer noch nie in diesem Kino gewesen sei. Es ist also Berlinale-Publikum, das hier sitzt. Genauso wie später bei Ulrike Ottingers persönlicher Dokumentation "Paris Calligrammes" und dem Abendfilm "Persian Lessons" von Vadim Perelman.

Regisseurin Maïmouna Doucouré stellte im Thalia ihren Film "Mignonnes" vor.
Regisseurin Maïmouna Doucouré stellte im Thalia ihren Film "Mignonnes" vor.

© Manfred Thomas

Bewusst unangenehme Tanzszenen

"Mignonnes" ist der einzige Jugendfilm des Kiezkino-Tages, ab 12 Jahren wird er auf der Berlinaleseite empfohlen. Im Publikum sitzen dennoch hauptsächlich Erwachsene, was ob des Filminhalts nicht ganz verkehrt ist. Der basiert teilweise auf einer Tanzaufführung, die Regisseurin Maïmouna Doucouré vor drei Jahren in Paris erlebt hat und die sie als schockierend bezeichnet. Junge Mädchen um die 11 Jahre bewegten sich in extrem lasziven Posen. "Ich habe mich gefragt, ob ihnen das bewusst war, wie sexualisierend sie sich da öffentlich bewegen", sagt sie im Thalia.

Dieser Frage geht auch ihr Film nach. Amy, hinreißend gespielt von Fathia Youssouf, möchte die coole Mädchenclique ihrer neuen Schule beeindrucken und bringt ihr deshalb Tanzschritte bei, die sie im Internet gefunden hat. In einem Musikvideo räkeln sich halbnackte Frauen, vollführen tabledanceartige Bewegungen. Die Mädchen - ebenfalls in sexy Klamotten - ahmen sie nach und filmen sich dabei. 

Maïmouna Doucouré zeigt diese Tanzszenen sehr ausgiebig, mit Nahaufnahmen der noch so jungen Mädchenkörper. Das zu sehen und es Auszuhalten ist höchst unangenehm - und soll es auch sein. "Ich wollte ein Bewusstsein dafür schaffen, was mit jungen Mädchen passiert, die mit solchen Bildern konfrontiert werden", sagt Doucouré. Wie es ihre Vorstellungen vom Frausein präge und auch welche Rolle soziale Netzwerke bei dieser Prägung spielen.

Regisseurin Maimouna Doucoure spricht im Thalia über ihren Film.
Regisseurin Maimouna Doucoure spricht im Thalia über ihren Film.

© Manfred Thomas

Alles für Follower und Likes

Denn die Mädchen stellen ihre lasziven Tanzszenen ins Internet, es hagelt Likes und Herzen, sie fühlen sich bestätigt, genauso weiterzumachen. "Ich habe früher auch gerne getanzt, aber wir haben das unter uns gemacht", erzählt die Regisseurin. Heute finde durch die sozialen Medien viel mehr in der Öffentlichkeit statt. "Es ist ein Anstreben von einer neuen Liebe, die sich in Followern und Likes ausdrückt, das aufzuzeigen war mir wichtig." Über diese Themen hat Maïmouna Doucouré mit vielen jungen Mädchen gesprochen, alles, was im Film zu sehen ist, wurde ihr so erzählt, wie sie sagt.

Dabei möchte sie an keiner Stelle über die Mädchen urteilen: "Ich möchte, dass man sie versteht, sich auch mit ihnen identifizieren kann." Und das gelingt. Schon allein deswegen, weil die Clique so divers zusammengesetzt ist und man ihr das junge Alter deutlich ansieht: Die Pickel im Gesicht sind sichtbar, das Haar sitzt nicht immer richtig, eines der Mädchen ist etwas fülliger, die andere trägt eine große Brille. Das sind keine glattgebügelten Hollywood-Schönheiten, sondern  Mädchen, die auf jedem Schulhof zu finden sein könnten.

Vor allem sind es Mädchen, die sich verloren fühlen in ihrem Übergang zum Erwachsensein, die sehr deutlich mit sexuellen Themen überfordert sind, weil es ihnen an Aufklärung fehlt. In einer tragisch-komischen Szene bläst eine der Freundinnen ein Kondom auf, die anderen sind entsetzt und fürchten, sie könne jetzt Aids haben. Weil man ein Kondom eben nur dann benutze, wenn man krank sei. Anschließend waschen die Mädchen ihr den Mund mit Seife aus, um sie vor einer möglichen Infektion zu schützen.

Biografische Ansätze der Regisseurin

Im Fall von Amy kommt ein enormer Kulturunterschied hinzu: Ihr Vater hat gerade eine zweite Frau mit in die Familie gebracht, die Heirat steht kurz bevor. Ihre Mutter leidet sichtbar darunter, will das die Kinder aber nicht spüren lassen. Die traditionsbewusste Tante, ermahnt Amy zum Beten, unterrichtet sie im Kochen, erklärt ihr aber erst, was eine Periode ist, als das Mädchen mit blutgetränkter Hose vor ihr steht. 

Maïmouna Doucouré ist selbst mit zwei Müttern, einem Vater und neun Geschwistern aufgewachsen, wie sie erzählt. Die Darstellung von Amys Familie wirkt wahrscheinlich auch deswegen nie überzogen, ihr Drang, sich davon zu befreien nachvollziehbar. Dabei steigert sie sich immer mehr in ihre "coole" Rolle hinein, benutzt ihr steigendes Selbstbewusstsein, um sich aus brenzligen Situationen zu retten. So tanzt sie etwa einem Sicherheitsbeamten etwas vor - und er lässt sie gehen. Schließlich stellt sie sogar ein Foto ihrer Vulva ins Netz. Weil sie beweisen möchte, dass sie schon eine Frau ist und kein Kind mehr. 

Gerade über diese Übersexualisierung hat Maïmouna Doucouré viel mit ihren jungen Darstellerinnen - die hier das erste Mal vor der Kamera standen - gesprochen. "Wir haben zusammen mit den Eltern viel diskutiert, um für sie ein Sicherheitsnetz zu schaffen", erzählt sie. Für die Schauspielerinnen sei sehr klar gewesen, dass sie nicht so sein wollen, wie die Mädchen im Film. "Sie tanzen selbst auch alle, aber ganz anders", sagt die Regisseurin, der mit "Mignonnes" ein berührender Film über das Frauwerden gelungen ist, der noch lange nachhallt. 

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false