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Im Park der Villa Jacobs wurde der zehnte Festival-Geburtstag gefeiert.

© Andreas Klaer

Update

Lit:potsdam-Jubiläumsausgabe zu Ende: Letzte Dinge und erste Seiten

„Was uns verbindet“: Das Literaturfestival Lit:potsdam über Einsamkeit, das Alleinsein und Brandenburg.

Potsdam - Ganz ohne Bauchpinselei kommt wohl kein Jubiläum aus, und Lit:potsdam macht da keine Ausnahme. So kam es, dass die ersten 20 Minuten der Festveranstaltung zum zehnten Festival-Geburtstag am Freitagabend im Park der Villa Jacobs zwei Politiker:innen gehören: Oberbürgermeister Mike Schubert und Kulturministerin Manja Schüle sind eingeladen, in Erinnerungen an vergangene Festivaljahre zu schwelgen und sich über die Bedeutung von Kultur im Allgemeinen auszulassen. Was der Ministerin naturgemäß etwas flüssiger und auch mal schnippisch über die Lippen geht („Was fällt Ihnen zuerst zu zehn Jahren Lit:potsdam ein?“ – „Bedauern!“). Und dann zum Glück auch bald vorbei ist.

„Was uns verbindet“ lautete das Festivalmotto in diesem Jahr, eingeführt vom neuen Festivalleiter Thomas Böhm. Schon der Eröffnungstag hatte den Bogen denkbar weit gespannt: Die simbabwische Autorin, Filmemacherin und Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga, hatte über Frauenrechte in Afrika gesprochen – am Vorabend eines Prozesstages, an dem in Harare ein Haftbefehl gegen sie ergehen sollte.

Eine dunkle Facette des Festivalmottos

Lit:potsdam hatte sich die politischen Debatten nicht auf die Fahnen geschrieben – und doch tauchten aktuelle Themen immer wieder auf: Sharon Dodua Otoo rief in der ersten „Potsdamer Rede zum Ende der Schulzeit“ zu mehr Achtsamkeit auf, es ging um Sprache und Gefühle in Politik und Alltag, um den vergessenen ukrainischen Jahrhundertroman „Die Stadt“, der jetzt neu ins Deutsche übersetzt wurde. Und an diesem kühlen Freitagabend im Park der Villa Jacobs ging es um eine dunklere Facette des Festivalmottos: Einsamkeit.

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Die zwei Expert:innen unterm Pavillon vor der Villa Jacobs könnten auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein. Einerseits sitzt da, eine Frau wie aus seidenem Stahl, Gabriele von Arnim. Jahrgang 1946, Journalistin, jüngst gefeierte Autorin für ein Buch, das eisernen, humorvollen Blicks dem Ende entgegensieht: „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“. Von Arnim berichtet von der jahrelangen Krankheit ihres Mannes, von der Pflege, dem Sterben, ihrem eigenen Weiterleben.

Unglück gibt es nicht nur im Alleinsein

Der zweite unterm Pavillon ist der Autor Daniel Schreiber, Jahrgang 1977. Sein Essay „Allein“, erschienen 2021, beleuchtet eine andere, selbstgewählte Seite des Alleinseins. Es ist die Beschreibung einer Lebensform und, so sagt es Schreiber an diesem Abend, der Aufruf, „mit dem Hierarchisieren der Lebensentwürfe aufzuhören“. Glück, sagt Schreiber, gibt es genauso wenig nur in der Zweisamkeit wie es Unglück nur im Alleinsein gibt.

Gabriele von Arnim und Daniel Schreiber bei der Festveranstaltung Lit:potsdam 2022 vor der Villa Jacobs.
Gabriele von Arnim und Daniel Schreiber bei der Festveranstaltung Lit:potsdam 2022 vor der Villa Jacobs.

© Kominek Gallery

Beide haben Bücher geschrieben, die von vielen als große Tröster empfunden wurden. Schreiber und von Arnim trennen 30 Jahre, aber was sie verbindet, wird schnell klar: gegenseitige Bewunderung (sie haben füreinander die Werbetexte für die Bücher geschrieben) und die Verweigerung, Alleinsein als Stigma oder auch nur Last zu empfinden. Wie überhaupt eine wichtige Unterscheidung an diesem Abend ist: allein heißt nicht gleich einsam. 

Er sei gern allein, sagt Schreiber – erst Ausnahmesituationen wie die Pandemie hätten ihn auch Einsamkeit empfinden lassen. Lesen wollten die beiden eigentlich nicht, und tun es dann doch. Schreiber liest von dem todkranken Regisseur Derek Jarman, der im Schatten eines Atomkraftwerks unermüdlich seine letzte Arbeit schuf: einen Garten. Von Arnim liest die Szene, als ihr Therapeut sie nach Jahren der Pflegetätigkeit fragt, ob ein anderer Mann denn keine Option sei? „Ach Gott“, habe sie da gesagt. Sie brauche kein weiteres Problem.

André Kubiczek stellt neuen Roman vor

Mit einem ähnlichen Augenzwinkern, mit dem von Arnim den Abend schloss, ging es beim Literatur-Picknick am Samstagnachmittag mit Leichtigkeit und Sommerbrise weiter. rbb-Moderatorin Anne-Dore Krohn bat die vier geladenen Autor:innen einzeln auf die Bühne, gedreht wurde eine Heimatrunde: In den neuen Büchern von André Kubiczek, Julia Schoch, Judith Zander und Torsten Schulz spielt Brandenburg in verschiedenen Facetten eine Rolle.

André Kubiczek und Moderatorin Anne-Dore Krohn.
André Kubiczek und Moderatorin Anne-Dore Krohn.

© Andreas Klaer

Den Anfang machte André Kubiczek. Der gebürtige Potsdamer stellte seinen Roman „Der perfekte Kuss“ vor, den dritten Teil seiner Erzählung um die jugendlichen Abenteuer von René in den 80er-Jahren. „Skizze eines Sommers", der erste Teil , wurde 2016 in den Feuilletons gelobt. Krohn bat Kubiczek, die erste Seite seines Romans vorzulesen, wozu dieser meinte, dass die ja „immer die schlechteste“ sei. Krohn hingegen sprach von einem besonderen, von Lässigkeit und Ironie getragenen „Kubiczek-Ton“, der sich durch die Romane ziehe.

Judith Zander liest aus neuem Lyrikband

Ganz anders als Kubiczek fällt die jüngst mit dem Preis der Deutschen Schillerstiftung ausgezeichnete Julia Schoch auf der ersten Seite ihres Buches „Das Vorkommnis“ direkt „mit der Handlung ins Haus“, wie Krohn es ausdrückte. Die Leser:innen ahnten sofort, dass das Leben der Ich-Erzählerin nach der Begegnung mit einer Frau, die behauptet, ihre Halbschwester zu sein, ins Wanken gerät. Das sei für sie der machbare Einstieg gewesen, sagte die Potsdamer Autorin, um in der Folge Fragen zu Ehe und Mutterschaft genauso wie zu Familiengeheimnissen thematisieren zu können.

Gar nicht direkt war das, was Judith Zander von der ersten Seite ihres neuen Buches vorlas – handelte es sich doch um ein Gedicht aus ihrem neuen Lyrikband „Im Ländchen Sommer im Winter zur See“. Von „Baumwollbläue eines verworfenen Himmels“ und „Nochsommerland“ ist hier die Rede – ein Spätsommergedicht, in dem immer wieder brandenburgische Landschaft durchschimmert. Viel konzentrierter mussten die Gäste hier zuhören, Zander war das bewusst. Sie mache sich aber beim Schreiben keine Gedanken über ihre Leser:innen, sagte sie: „Gedichte sind schwer vermittelbar“, Lyrik Nische.

Letzter Bühnengast war Torsten Schulz, der 2004 mit dem Roman „Boxhagener Platz“ bekannt wurde. In seinem Roman „Öl und Bienen“ spielt wie bei Kubiczek Musik eine große Rolle – nur dass es 1978 ist und die 30-jährigen Protagonisten in jugendlichen Attitüden und einem Kaff im Havelland hängengeblieben sind. 

Julia Schoch, André Kubiczek und Torsten Schulz (v.l.) lasen im Park der Villa.
Julia Schoch, André Kubiczek und Torsten Schulz (v.l.) lasen im Park der Villa.

© Andreas Klaer

Beim Lesen der ersten Seite fällt vor allem die sehr lange Kapitelüberschrift auf: „Wie Edwin Kronokiewitschy mit seiner Wutzner-Geschichte die Zeche bezahlt und Krücke einen Traum erwähnt“. Passend zum skurrilen Inhalt habe er sich damit in die Tradition des Schelmenromans begeben, sagte er.

War aufgrund der Veranstaltung mit gleich vier Autor:innen nicht die Möglichkeit zu tieferen Gesprächen gegeben, ist am Ende der Plan für das Literatur-Picknick trotzdem aufgegangen: Zu zeigen, wie vielfältig aktuelle Literatur aus der Region ist und wie tragend ihr Brandenburg-Charakter wirkt – ganz im Sinne des Festival-Mottos „Was uns verbindet“.

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