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Von Echsen und Vögel: Die Kölner Kompanie El Cuco mit „Just before Falling“.

© Julia Franken/promo

Festival für neues Figurentheater in Potsdam: Bevor ein Ding zerspringt

Neues Figurentheater am Potsdamer T-Werk: Mit „Just before Falling“ feiert das zweite Radar-Festival einen vielversprechenden Auftakt.

Potsdam - Es gibt eine berühmt gewordene Liedzeile des Melancholikers Leonhard Cohen, die besagt: „There’s a crack in everything, that’s how the light gets in“. In allen Dingen ist ein Riss, so kommt das Licht da rein. „Just before Falling“ von der Kölner Kompanie El Cuco Projekt, der Auftakt des diesjährigen Radar-Festivals am T-Werk, hat diese Risshaftigkeit der Dinge zum Prinzip erhoben. Diese Bühnenwelt hat einen Sprung.

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Und zwar auch im Wortsinn. Hier geht ein Riss schon durch die Bühne: eine realistisch gebaute Flursituation mit Kommode, Vase, Regenständer und Spiegel an der Wand. Dieses Dekor reißt an seinen Rändern mittendrin ab. So abrupt, dass sogar die Bilder an der Wand nur halb zu sehen sind. Was im Theater sprichwörtlich immer gilt (es zeigt nur einen Ausschnitt der Welt), ist hier im Wortsinn umgesetzt worden. „Just before Falling“ ist offensichtlich Fragment.

Die Wiederholung des Immergleichen, nur nie auf völlig gleiche Weise

Das gilt auf hirnverknotende Weise auch inhaltlich. „Just before Falling“ erzählt von einem einzigen Moment, auf unzählige Weisen. Draußen stürmt es. Jemand betritt einen Raum, lässt eine Blume in eine Vase fallen, schüttelt den Schirm aus, wirft die Schlüssel in eine Schüssel aus Metall. Pling. Dann den Schirm in den Schirmständer. Plong. Dann wird es schwarz. Dann wieder von vorn.

Zu sehen ist die Wiederholung des Immergleichen, nur nie auf völlig gleiche Weise. Die Blumenvase rückt auf der Kommode immer weiter nach rechts, dann über den Rand der Kommode hinaus. Sie schwebt. Bald schwebt da noch eine, und noch eine. Zusammen ergeben die Vasen im Bild das, was eigentlich im Bild nicht festgehalten werden kann: Zeit, die vergeht. Zehntelsekunden, die aufeinander folgen, eingefroren in einem Bild. Ein Ding, bevor es in tausend Teile zerspringt.

Zucken, hacken, wackeln: Hyperrealistische Tierköpfe und präzise Bewegungen

Der verfremdet realistischen Welt auf der Bühne werden hyperrealistische Tierköpfe (Regie und Masken: Sonia Franken und Gonzalo Barahona) eingepflanzt. Ganz zu Anfang kriecht ein großer Echsenkopf aus dem Bühnenhintergrund nach vorn. Die Bewegungen des dazugehörigenden Körpers sind so geschmeidig, so atemberaubend präzise, dass sie die menschliche Kostümierung fast vergessen machen. Was da herankriecht, ist eindeutig tierischer Natur – bis die Echsengestalt sich vor einem Fleck am Boden aufrichtet und nach oben blickt: zum imaginierten Ursprung des Flecks.

Zu-spät und Noch-nicht, Vorher und Nachher werden in „Just before Falling“ ineinandergewoben, und je länger das dauert, desto häufiger bekommt die Chronologie Schluckauf. Bewegungen geraten ins Stocken und wiederholen sich, werden manchmal wie zurückgespult. Als hätte eine Schallplatte eine Sprung – oder eine DVD einen Kratzer. Damit aber noch nicht genug der Verwirrung. Aus der einen Echse werden zwei, aus den Echsen werden seltsam anmutende Vögel und Fledermäuse. Die Tänzerinnen Carla Jordao und Hannah Krebs geben allen Tieren in ihren Andeutungen vollendete Eigenschaften, sie zucken, hacken, nicken, wackeln, ohne dass die Tiere je zur Parodie würden. Höchstens auf den Menschen, aber erst später.

Düsteres Endzeitszenario und kafkaesker Alptraum

„Just before Falling“ hat anrührende, fast sakrale Momente – die, in denen die Echse erstmals zum Mensch wird, gehört dazu. In solchen Momenten jagt das Stück einem Schauer der Erwartung über den Rücken, wie das sonst nur Mystery-Serien à la „Dark“ können: Was kommt als nächstes? Alles scheint möglich, alles fragil.

Wie die Zeitreise-Serie „Dark“ macht auch „Just before Falling“ eine Art düsteres Endzeit-Szenario auf. Eine Stimme aus dem Off erklärt zunächst wörterbuchgenau, was das ist: Fallen, Tisch, Tapete, Vase, Blume. Dann ist von dem Einbruch eines großen Nichts die Rede: Ein Ich kommt nach Hause, will die Tür aufschließen – aber das Haus ist weg. Die Stadt, die Bevölkerung, die Regierung, alles weg. Ein kafkaesker Alptraum.

So hat man die Welt am T-Werk noch nicht gesehen

Ja, es gibt auch Längen in dem gespenstischen Endlos-Loop, der dieses Stück ist. Aber viel wichtiger sind die Momente, in denen man in den Ritzen dieses Stückes die eigene Lebenswelt erkennt – oder die Alpträume, die sie bevölkern. Und ästhetisch, tänzerisch, handwerklich betrachtet ist „Just before Falling“ eine kleine Offenbarung. So hat man die Welt am T-Werk noch nicht gesehen. Vielversprechender kann das zweite Radar-Festival eigentlich nicht beginnen.

„Just before Falling“, am Freitag und Samstag (29. und 30. Oktober 2021) nochmal in der Berliner Schaubude, Greifswalder Str. 81-84, 10405 Berlin

Radar, das Festival für Junges Figurentheater, findet zum zweiten Mal am T-Werk in der Schiffbauergasse statt. Bis Samstag (30. Oktober) sind noch sieben Kurzstücke zu sehen. Es empfehlen sich Tages- oder Festivaltickets für 20, ermäßigt 14 Euro oder 32, ermäßigt 22 Euro unter www.t-werk.de. Am 29. und 30. Oktober, jeweils um 18 Uhr, ist die Hörspiel-Installation „Gute Nacht“ von Pragmata zu erleben, ausdrücklich „nicht zum Einschlafen“. Am Freitag (29. Oktober) um 19 Uhr zeigen Studierende der HMDK Stuttgart die drei Kurzstücke „Als ich Gabel war“ (eine „objektophile Begegnung“ von Adeline Rüss), „Schöne Jugend“ (eine Performance von Lisbeth Nenoff) und „Masa Mater“ (eine Teig-Performance Annina Mosimann). Um 21 Uhr folgt „Fragt mich was ich werden will und ich sag“, ein biografisches Objekttheater von Gerda Knoche über Kindheitsträume (auch am 30. Oktober um 19 Uhr). Am Samstag (30. Oktober) 20 Uhr zeigt das Dirtztheater drei „Short Stories“. Zum Abschluss spielt um 21.30 Uhr das Potsdamer Singer-Songwriter-Duo The Acorns.

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