zum Hauptinhalt

Festival „bewegend anders“ in Potsdam: Etwas anderes sehen als sich selbst

Für das Festival „bewegend anders“ inszeniert Anja Kozik mit jungen Tänzern mit und ohne Behinderung „Romeo und Julia“.

Potsdam - Da liegen sie. Ein Mann und eine Frau. Er beugt sich über sie. Klar, worum es geht. Oder? Ganz leise gibt sie ihm Anweisungen. „Leg meine Hand auf meinen Bauch.“ „Stell mein Knie auf.“ „Ich möchte sitzen. Auf dir liegen. Roll mit mir“ Und er? Er bewegt sie. Legt sie sich auf den Bauch. Rollt sich mit ihr. Nicht genervt. Nicht übervorsichtig. Liebevoll. Wie eine schlaffe Puppe hängt sie schließlich in seinen Armen. „Tanz mit mir.“ Und er tanzt. Mit ihr, lässt sie fliegen, entwickelt Kraft und Dynamik für sie beide.

Vielleicht, denkt man kurz, ist das das Schönste überhaupt. Was hier – mehr oder weniger wortlos – plötzlich klar im Raum steht, ist fast schon die Essenz dieses Dings, um das sich doch alle am Ende ständig drehen: Liebe. Was natürlich so sein muss, schließlich inszeniert Anja Kozik, seit 1992 künstlerische Leiterin des Studios für Tanz und Bewegung im Waschhaus, gerade „Romeo und Julia“. Und zwar – das ist das Besondere – mit Jugendlichen aus Potsdam – solchen mit und solchen ohne Behinderung, sowie mit den beiden HOT-Schauspielern René Schwittay und Patrizia Carlucci.

Festival "bewegend anders" will anderes zeigen

Also was ist das jetzt: klassisch zeitgenössische Choreographie - oder wirklich so „anders“? Denn darum geht es beim Festival „bewegend anders“, das Waschhaus, Hans Otto Theater und Awo vom 2. bis zum 6. September auf dem Areal der Schiffbauergasse veranstalten und bei dem „Romeo und Julia“ Premiere feiern wird. Stargast des Festivals ist dann das Theater Hora aus der Schweiz, das seine Inszenierung „Disabled Theater“ zeigt – entworfen vom renommierten Choreografen Jérôme Bel.

Der 1964 Geborene gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Konzepttanzes, eines Ansatzes, der den Tanz und die Art, wie er produziert wird selbst zum Thema macht. Bel, 2013 zu Gast beim Berliner Theatertreffen, was selten ist für Choreografen, arbeitet seit Jahren mit geistig behinderten Menschen. Er sagt: Theater ist nicht dazu da, die Identifikationssehnsüchte der Zuschauer zu bedienen. Die Essenz des Theaters ist für ihn, etwas anderes zu sehen als sich selbst. Ihn interessiert eben nicht die schöne Pose, das Dekorative, was viele in synchronen Bewegungen entdecken. Ihm geht es um das, was jeden seiner Tänzer ausmacht. Klingt esoterisch? Ist es nicht. Jeder echte Künstler muss schließlich seine ganz eigene Sprache finden – genau das tun auch die Profi-Tänzer des Theater Hora. Und der Körper ist nun mal ein grandioses Mittel, das Unsagbare zu sagen – und das Sagbare noch besser.

Kitschklassiker als Basis für die Arbeit

So einfach, wie es klingt, ist es für Anja Kozik dann aber doch nicht. Dass Luana, die junge Frau aus dem Duett, diese Frau mit Muskelschwund spielen darf – als Nicht-Behinderte – da hat Anja Kozik schon lange mit sich gerungen. Am Ende war es der Satz einer Künstlerin, irgendwo in einem der Pavillons auf der Biennale in Venedig, wo derzeit vermessen wird, was Künstler weltweit gerade zu sagen haben, der ihre Beklemmung löste: „Ich wünschte mir, dass ich einmal den Platz wechseln könnte – um die Welt mit deinen Augen zu sehen.“ Warum sollte der nur für Behinderte gültig sein? Mal was anderes sehen als sich selbst, das ist immer gut. Darum gehts ja auch in der Liebe. Deshalb passt es, dass sich das Potsdamer Produktionsteam um Anja Kozik für „Romeo und Julia“ entschieden hat, als Basis für ihre Arbeit. Gerade an dem Shakespearschen Kitschklassiker, in dem sich alles um den Zauber des Anfangs, die unwiderstehliche Schönheit des Unmöglichen, Vergänglichen dreht – ist perfekt, um eine zweite Ebene zu schaffen. Die Liebe verbindet beide. Und die Liebe kennt jeder, Menschen mit und ohne Handicap, Alte und Junge. Man könnte es auch mit dem dänischen Schriftsteller Jens Peter Jacobsen sagen: „Die Menschen können sehr verschieden sein, aber ihre Träume sind es nicht!“

Das Problem ist nur: Die Träume sind immer so viel schöner als die Realität. „Das Ideal der vollkommenen Liebe, das haben alle Menschen“, sagt René Schwittay. Nicht umsont heiße es deshalb in „Romeo und Julia“: „Gute Ehen sind kurz.“ Weil die Leidenschaft eben fragil und flüchtig ist. Und das, was die Liebe potenziell zerüttet, der Alltag, die zu große Nähe, das hatte das legendäre Liebespaar ja nie. Sie sterben, weil ihre Familien es nicht aushalten können, dass den beiden die Jahrzehnte alte Fehde egal ist, dass die zwei die vermeintlich so großen Unterschiede mühelos überwinden. Denen, sagt René Schwittay, war das egal. so wie es im Grunde egal ist, ob der eine hören oder laufen kann oder eben nicht.

Ohne Entblößen keine Begegnung

Vielleicht liegt also gerade im Unvollkommenen, im Aushalten all der schmutzigen kleinen Geheimnisse des anderen, seinen Macken und Schwächen, der wahre Zauber der Liebe. Damit der Rausch des Neuen sich aber fortsetzen kann, muss er erst einmal geschaffen werden. Deshalb wollen Anja Kozik und ihr Team auch „Romeo und Julia“ nicht einfach adaptieren, die Geschichte ist nur das Plateau, auf dem sie sich treffen um etwas Neues zu schaffen. „Sonst würden die Zuschauer ja nur ihre eigene Vorstellung von Liebe dazu in Relation setzen – dann gäbe es keinen Austausch, keine neue Erkenntnis durch unser Stück“, sagt Schwittay. Dabei ist ja klar: Durch eine körperliche Behinderung unterscheidet man sich ganz klar von den anderen, was gerade für Jugendliche sehr belastend sein kann. Noch dazu, wenn es um Sexualität geht, weil sich dabei die meisten erst mal ungeschützt fühlen. Ausgesetzt. Aber ohne Entblößen keine Begegnung. Oder, wie der Satz, den Anja Kozik in Venedig fand, und der ihre inneren Türen aufstieß, weitergeht: „Ich kam hierher, allein und ungeschützt – um euch zu treffen.“

Mehr zum Programm >>

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false