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Kultur: Falsches Etikett

Barbara Asper bewertet „Nesthäkchen“-Bücher neu

Die Kindheit prägt das weitere Leben. So war es auch bei Barbara Asper, die in der nachgelassenen Bibliothek ihrer früh verstorbenen Mutter die „Nesthäkchen“- Romane von Else Ury fand. Seit zwanzig Jahren beschäftigt sich die 1940 geborene Autorin jetzt wissenschaftlich mit deren Werk. Am Freitag stellte sie in der Stadt- und Landesbibliothek in der Reihe „Verbrannte Bücher“ ihre Forschungsergebnisse vor.

Else Ury war Jüdin und wurde bereits 1935 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, was einem Schreibverbot gleichkam. Ihre beliebten Mädchenbücher wurden wegen ihrer Popularität noch lange weiterverkauft und landeten keineswegs auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung. Die Autorin selbst aber überlebte die Schreckensherrschaft der Nazis nicht. 1943 nach Auschwitz deportiert, kam die 65-Jährige dort in den Gaskammern um. Diese Tatsache wurde nach dem Krieg lange nicht bekannt, obwohl die „Nesthäkchen“-Romane in der Bundesrepublik bald wieder verlegt und massenhaft gelesen wurden.

Anders in der DDR. Die Alltagsgeschichten um die blonde stupsnasige Arzttochter Annemarie Braun hatten wenig mit dem propagierten neuen Menschen- und Familienbild gemein und wurden von Autoren wie Ilse Korn, Alex Wedding und Günter Cwojdrak kategorisch abgelehnt. Letzterer schrieb in einem Aufsatz, „derartige Kitschprodukte gehören für uns endgültig der Vergangenheit an“. Dass sie trotzdem unter der Hand gelesen wurden, bestätigte am Freitag lebhaft eine Handvoll interessierter Zuhörerinnen. Aber auch sie wussten weder etwas über die Herkunft der Autorin noch über deren tragisches Schicksal.

Barbara Asper hingegen hat sich bald auf die Suche gemacht und nicht nur das biografische Umfeld von Else Ury gründlich recherchiert, sondern sich auch detailliert mit der Entstehungsgeschichte und den Zeitbezügen der fast 40 Geschichten und Romane beschäftigt. Sie kommt zu dem Schluss, dass deren Autorin neben einer Faszination für moderne technische Errungenschaften vor allem klassische Bildung und einen Beruf als Möglichkeit für ein selbstbestimmtes Leben junger Mädchen gutheißt und in ihren Büchern propagiert. Dieses Frauenbild ist zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts – die „Nesthäkchen“-Reihe entstand zwischen 1913 und 1925 – kein Allgemeingut. Ury ordne sich damit in eine Reihe von Streiterinnen für Frauenrechte wie Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt ein. Aber auch Ideen der Reformpädagogik oder von zeitgenössischen Sozialreformerinnen wie Alice Salomon finden Niederschlag in ihren als „Heile-Welt-Schilderungen“ verschrieenen Büchern.

Asper und ihre Mitstreiterinnen Hannelore Kempin und Bettina Münchmeyer-Schöneberg setzen sich nachdrücklich für eine differenzierte Bewertung des Werkes und der Person von Else Ury ein, über die Tilman Jens noch 1996 in einer Kulturreportsendung sagte: „Ury hat in das System ihrer Mörder gepasst und hat bis zum Schluss den Nazis gegenüber ihre Loyalität bewiesen“. Das 2007 im Text Verlag Berlin veröffentlichte Buch „Wiedersehen mit Nesthäkchen. Else Ury aus heutiger Sicht“ will einen Beitrag dazu leisten, das Schaffen der Autorin von „häufig politisch motivierten Fehlinterpretationen“ zu befreien. Asper kündigte außerdem an, dass der Carlssen-Verlag einen Nachdruck der „Nesthäkchen“-Reihe plant.

In der Kinderabteilung der Stadt- und Landesbibliothek übrigens sind die Romane derzeit ausgeliehen oder vorbestellt. Trotz der Konkurrenz von Pippi Langstrumpf, Roter Zora und den modernen Mädchenfiguren aus der Feder von Cornelia Funke oder Joanne K. Rowling. Astrid Priebs-Tröger

Astrid Priebs-Tröger

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