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Der in Berlin lebende Fotograf Nikita Teryoshin war für "I have never been to Russia" das erste Mal in Moskau. Zu sehen in "Floating Identities" im sans titre in Potsdam.

© Andreas Klaer

European Month of Photography in Potsdam: Die Truman-Schau

Potsdam-Abstecher des European Month of Photography: Die Ausstellung "Floating Identities" im Kunsthaus sans titre bewegt sich an der Bruchstelle zwischen Illusion und Wirklichkeit.

Potsdam - Der Himmel ist blassblau. Schönwetterwölkchen. Eine Palme winkt ins Bild. Das Wasser sieht aus, als wäre es angenehm warm. Aber halt. Irgendetwas stimmt nicht. Wo sind die Wellen? Und was sind das für Schatten über den Wolken? Himmel hilf: Gestänge. Was man eben noch fast neidvoll betrachtete, ein exotisches Urlaubsparadies, lässt einen irritiert zurückzucken. Kein Paradies. Eine Halle.

"Pommes im Paradies" heißt der Zyklus, mit dem die Fotografin K.T. Blumberg sich an der Potsdamer Außenstelle des European Month of Photography (EMOP) im Kunsthaus sans titre beteiligt. Die Sammelausstellung verknüpft unter dem Titel "Floating Identities" insgesamt fünf Positionen: Andreas Herzau, Nikita Teryoshin, Andrea Wilmsen, Wolfgang Zurborn (der auch kuratiert hat). Und K.T. Blumberg.

Vor falscher Idylle. Die Potsdamer Fotografin K.T. Blumberg vor "Pommes im Paradies", ihrem Beitrag zum "European Month of Photography" im Kunsthaus sans titre.
Vor falscher Idylle. Die Potsdamer Fotografin K.T. Blumberg vor "Pommes im Paradies", ihrem Beitrag zum "European Month of Photography" im Kunsthaus sans titre.

© Andreas Klaer

Wie Jim Carrey in "Die Truman Show"

Ihre Serie ist 2019/2020 in einem nicht näher benannten Wellnessparadies à la Tropical Island entstanden. An dem beschriebenen Foto prallt man ab wie Jim Carrey an der Kulissenwand hinterm Ozean in der "Truman Show". K.T. Blumberg lässt dem falschen Paradies gerade so viel Illusion, dass der Aufprall in der Realität noch ordentlich wehtut. 

Sich über die von der schönen Ferne Träumenden unterm Hallendach lustig zu machen, wäre leicht gewesen. Die Potsdamer Fotografin aber lässt dem Traum seinen Reiz, den Träumenden ihre Sehnsucht. Die Motive auf den Handtüchern, mit denen die Hallenurlauber ihre Liegestühle markieren, erzählen davon: ein nostalgischer VW-Bus, Pelikane, Tiger, die Eiskönigin von Walt Disney. Traumfabrik trifft Traumfabrik.

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Andreas Herzau nähert sich in seinem Zyklus "Helvetica", ebenfalls zu sehen in "Floating Identities", der Schweiz an.
Andreas Herzau nähert sich in seinem Zyklus "Helvetica", ebenfalls zu sehen in "Floating Identities", der Schweiz an.

© Andreas Klaer

Schweizer Berge auf dem Stromkasten

Auch die anderen Arbeiten in "Floating Identities" tasten die colorierte Kulisse ab, an der sich Truman im Film Beulen holt: die Bruchstelle zwischen Illusion und Wirklichkeit. In der Serie "Helvetica" von dem Hamburger Fotografen Andreas Herzau begegnet man idealer Landschaft wieder: schneebedeckte Schweizer Berge - als Dekoration. Stromkasten oder Wandschrank? Durch die hübsche Landschaft geht ein vertikaler Riss, verweist auf die Funktion dahinter, eine Tür. Die echten Schweizer Berge auf dem Foto daneben sehen dagegen geradezu unwirklich aus. Erst das vertikale Element, das auch hier durchs Bild schneidet (ein Fensterrahmen?) holt einen ins Jetzt.  

Bei dem Kölner Wolfgang Zurborn und der in Berlin lebenden Andrea Wilmsen sind erkennbare Orte größtenteils Fragmenten gewichen. Am poetischsten bei Wilmsen. Der Schatten eines alten Mannes, die zärtliche Berührung zweier Hände, mit Gaze umwickelte Holzscheite: Ausschnitte einer radikal subjektiven Wahrnehmung.

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Nikita Teryoshin zeigt in "I have never been to Russia" auch einen der Hunde, an denen das Pawlowsche Gesetz erprobt wurde.
Nikita Teryoshin zeigt in "I have never been to Russia" auch einen der Hunde, an denen das Pawlowsche Gesetz erprobt wurde.

© Andreas Klaer

Der Traum vom Meer und Traumfabriken in Moskau

Ähnlich in Zurborns Zyklus "Playtime". Hier zerfließt der auf Wandtapete gebannte Traum vom Meer auf die davorstehende Wachstuchdecke. Auch die ist stechend blau, scheint geradezu nach der Betrachterin zu greifen. Ein anderes Foto zeigt eine Hand auf einem Kinderwagen, darin ein Baby. Im Hintergrund, Bildschirm oder Tapete?, eine Taucherin. Der Blick der Mutter ist zweigeteilt, mindestens. Wie der der ständig am Smartphone hängenden digital natives. Und wie auch der des Babys: am Wagen baumelt ein großer Stoffhase.

Offensiver, mit deutlicher gesellschaftskritischem Bezug geht Nikita Teryoshin ans Werk. Er zeichnet mit der Serie "I have never been to Russia" ein Porträt des gegenwärtigen Moskau. Jung, schrill, verstörend. Der in Berlin lebende Künstler, geboren in St. Petersburg, besuchte im Jahr 2019 Moskau das erste Mal. "I have never been to Russia" zeigt, in erbarmungslosem Licht, dass auch Teryoshin Traumfabriken vorfand: religiöse Zeremonien, Straßenparaden, Fernsehstudios, Shopping Malls. Auf dem letzten Foto der Reihe ist ein ausgestopfter Hund zu sehen, fotografiert im Moskauer Hygienemuseum. Einst soll Iwan Petrowitsch Pawlow die nach ihm benannten Reflexe an dem Tier ausprobiert haben. Jetzt hängt es da, von Seilen gehalten, und schaut ins Nichts. 

"Floating Identities", bis 31. Oktober im Kunsthaus sans titre,  Französische Str. 18, 14467 Potsdam

Lena Schneider

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