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Monumentale Erinnerung. Mahnmal im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Erinnerungskultur in der DDR: Völkermord statt Holocaust

Gab es in der DDR eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Faschismus? Nein, sagte Marianne Birthler in der Veranstaltung „Scobel fragt“ am Potsdamer Hans Otto Theater im Gespräch mit Eugen Ruge. Der preisgekrönte Autor und gebürtige Potsdamer widersprach. Hier schreibt er, warum. 

Potsdam - Über die Veranstaltung „Scobel fragt“ mit Frau Birthler und mir ist danach in den PNN zu lesen: „Tatsächlich bietet Birthler ernst zu nehmende Erklärungen für das Erstarken neurechter Positionen“ und dafür, warum dieses Phänomen „im Hoheitsgebiet der ehemaligen DDR signifikant mehr Menschen betrifft“.

Als einen der wichtigsten Gründe gab Frau Birthler an, dass es keine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Faschismus, insbesondere so gut wie keine Darstellung der Verfolgung und Vernichtung der Juden in Deutschland in der DDR gegeben hat (sondern nur die des kommunistischen Widerstands). Ist das eine der genannten „ernstzunehmenden Erklärungen“? Es scheint nötig, hier nachträglich etwas richtigzustellen.

Was in der BRD Holcaust hieß, hieß in der DDR Völkermord

Tatsächlich kam in der DDR kein „Holocaust“ vor, denn dieser Begriff wurde hier erst mit dem gleichnamigen amerikanischen Film bekannt; in der DDR hieß der Begriff „Völkermord“ – und war insofern um einiges konkreter. Mir ist aus den westlichen Medien gut in Erinnerung, welches Entsetzen und Erstaunen der Film in der BRD auslöste. Insofern wäre zu fragen, was dort, in der BRD, eigentlich an Auseinandersetzung mit dem Thema bis 1979 stattfand. Das will ich hier aber nicht beurteilen.

Seit wann „Professor Mamlock“ von Friedrich Wolf in der DDR Pflichtlektüre war, habe ich nicht herausbekommen, vermutlich von Anfang an. Das Stück ist 1933 geschrieben. Es beschreibt, wenn nicht den Völkermord selbst, so doch die beginnende Verfolgung der Juden im Nazireich. Das Stück ist schon 1938 in der Sowjetunion verfilmt worden, in der DDR ein zweites Mal 1961, und zwar durch einen der wohl wichtigsten und einflussreichsten Filmemacher der DDR, Konrad Wolf.

In dem Defa-Film „Jakob der Lügner“ stand der Holocaust im Mittelpunkt

Der wohl bekannteste deutsche Film über die Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus war vermutlich „Jakob der Lügner“, ein DDR-Film, nach dem gleichnamigen Roman von Jurek Becker (1969), ebenfalls von einem der wichtigsten Regisseure der DDR inszeniert, von Frank Beyer. Spätestens seit der amerikanischen Verfilmung mit Robin Williams ist die Geschichte sogar weltberühmt. Die nicht eben DDR-freundliche Stiftung für Aufarbeitung schreibt über die DDR-Verfilmung: „Jakob der Lügner erzählt die Geschichte von Jüdinnen und Juden im Ghetto von Lodz kurz vor deren Deportation in die Vernichtungslager. Der Film hebt sich von anderen Filmen der Defa dadurch ab, dass der Holocaust thematisch im Mittelpunkt steht. Hinzu kommt, dass hier individuelles Erinnern den Fokus bildet und der Film keine plakativen Anknüpfungsmöglichkeiten für ein kollektives Gedächtnis im Sinne des klassischen Antifaschismus der DDR bietet.“

Einen Beweis für die Schlechtigkeit der DDR findet sich im Text der Stiftung natürlich trotzdem. Vor dem Roman schrieb der damals relativ unbekannte Autor das Drehbuch. Es wurde 1968 abgelehnt und konnte erst 1974 realisiert werden. Fragen wir Andreas Dresen, wie viele Jahre er brauchte, um seinen Film Gundermann zu realisierten.

Unbehelligt lebende Kriegsverbrecher in der BRD 

Der Roman „Jakob der Lügner“ wurde innerhalb und sogar außerhalb der DDR ein großer Erfolg. 

Weniger freundlich äußert sich die Stiftung über den schon 1957 in der DDR erschienen Dokumentarfilm „Tagebuch für Anne Frank“: „In der klassischen Art eines Propagandafilms“, heißt es auf der Website der Stiftung, „werden Fakten über in Westdeutschland unbehelligt lebende Kriegsverbrecher dazu genutzt, ‚die Jugend’ der DDR auf das ‚Feindbild BRD’ einzuschwören.“ Die Jugend steht in Anführungszeichen; soll wohl heißen, dass es eine echte Jugend in der DDR gar nicht gab. Aber warum gefällt es der Stiftung nicht, wenn unbehelligt lebende Kriegsverbrecher in der BRD benannt werden?

Über den Film heißt es auf der Seite einer ganz anderen Stiftung, nämlich der Defa-Stiftung: „Dieser schwarz-weiß-Dokumentarfilm berichtet, vom Schicksal der Anne Frank ausgehend, über die nationalsozialistische Technologie des Massenmordes und die Zusammenarbeit zwischen SS und der deutschen Industrie. Thematisiert werden auch die Vernichtung holländischer Juden und der Widerstand in den Niederlanden. Regisseur Joachim Hellwig weist nach, wie zahlreiche Mörder unbehelligt in der Bundesrepublik leben, dazu gehören der ehemalige Kommandant des holländischen SS-Sammellagers für Juden in Westerbork, Albert Konrad Gemmeker, aber auch Hans Globke als Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Otto Ambros (früher Buna-Vorstand) sowie der Bundestagsabgeordnete und CDU-Mitglied Hermann Conring.“ 

„Das Tagebuch der Anne Frank“: keine Pflichtlektüre in der DDR und BRD

Das eigentliche „Tagebuch der Anne Frank“ war nicht Pflichtliteratur in der DDR – aber auch nicht in der BRD. Die Uraufführung des gleichnamigen Theaterstücks fand zeitgleich in der DDR und in der BRD statt. Dass das Buch in der DDR durch geringe Auflagen „unterdrückt“ wurde, gehört in den Bereich der Legende. Jeder konnte es lesen, und wenn es nicht alle taten, so fürchte ich fast, dass das daran lag, dass „die Jugend“ der DDR, also ich, durch Literatur über die Verbrechen der Nazis überfrachtet waren.

Im Übrigen kommt die Verfolgung und Vernichtung der Juden auch in anderen berühmten, zum Teil zur Pflichtliteratur gehörenden Werken vor, so zum Beispiel in „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers oder in Johannes R. Bechers „Ballade von den Dreien“; sogar Nikolai Ostrowski, die Nummer Eins der DDR-Schulliteratur, berichtet in seinem ideologisch gewiss gefärbten Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ sehr zentral über Pogrome an Juden – allerdings in der Ukraine, und das hört man ja heute nicht mehr so gern.

Der Besuch eines ehemaligen KZ gehörte in der DDR zum Lehrplan

Zum DDR-Lehrplan gehörte übrigens fest der Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers – von der Stiftung Aufarbeitung als „verordneter Besuch“ diffamiert. Ich selbst bin mit meiner Schulklasse im KZ Sachsenhausen gewesen. Was uns dort im Alter von vielleicht zwölf oder vierzehn Jahren zugemutet wurde, war womöglich mehr als man Kindern zumuten sollte. Im begleitenden Film wurde die Funktion einer Gaskammer erläutert. 

Ich erinnere mich an Berge von Schuhen und Haaren und Kleidung, die, wie ich heute glaube, möglicherweise gar nicht aus Sachsenhausen stammten (in Sachsenhausen gab es nur relativ wenige Baracken, in denen Juden interniert waren, unter besonders schlechten Bedingungen). Die Bilder der Vernichtung wurden dennoch gezeigt. Zwar erinnere ich mich nicht mehr an die Kommentare zu den Bildern, aber mir war vollkommen klar, dass es sich hier um die Vernichtung von Juden handelte. Dass dagegen in Sachsenhausen auch tausende sowjetische Kriegsgefangene durch Genickschuss ermordet wurden, hatte ich später nicht mehr in Erinnerung.

Was sagt der Zentralrat der Juden über Geschichtsauffassung der DDR?

Abschließend sei zitiert, was der Zentralrat der Juden in Deutschland über seine eigene Geschichte in der DDR auf seiner Website bekanntgibt: „Nach dem Tod des Parteiführers der KPdSU, Josef Stalin, am 5. März 1953 endete die Diskriminierung der Juden in der DDR. Polizeiaktionen und Verfolgungen wurden eingestellt, inhaftierte Gemeindemitglieder freigelassen und die Mehrheit der jüdischen Ex-Parteimitglieder rehabilitiert. Die zahlenmäßig kleiner gewordenen Gemeinden erhielten Zahlungen für die Erneuerung der Synagogen, zum Unterhalt eines Altersheims, einer koscheren Metzgerei und für die Instandhaltung des jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee. Seit 1961 erschien das ‚Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde’ von Berlin und des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik als Informationsorgan der Jüdischen Gemeinde in der DDR.“

Man kann die Informations- und Kulturpolitik der DDR trotz allem sehr grundsätzlich kritisieren. Wer aber, wie Frau Birthler, 39 Jahre lang in der DDR gelebt hat und glaubt, er habe all seine Informationen über den Völkermord an den Juden aus dem Westen bekommen, der leidet ganz offensichtlich an einer für unsere heutige Gesellschaft typischen Verblendung. Ideologie gab es eben leider nicht nur in der DDR.

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Am 15. November erschien in den PNN unter der Überschrift „Die Nazis waren auf der anderen Seite“ eine Besprechung der Veranstaltung „Scobel fragt“ am Hans Otto Theater. Gert Scobel ließ hierin Eugen Ruge und Marianne Birthler zu dem Thema „Ost & West – Kommt die Zukunft von allein?“ diskutieren. Der Buchpreisträger Eugen Ruge führt die Debatte in seinem Beitrag fort.

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Eugen Ruge wurde 1954 in Soswa, Sowjetunion, geboren. Er ist der Sohn des DDR-Historikers Wolfgang Ruge, der von den sowjetischen Machthabern in ein sibirisches Lager deportiert worden war. Seine Mutter ist Russin. Im Alter von zwei Jahren kam er mit seinen Eltern in die DDR. Er wuchs in Potsdam auf. Ruge ist diplomierter Mathematiker. 1986 begann er mit dem Schreiben, zunächst mit Theaterstücken und Hörspielen. 1988 siedelte er in die Bundesrepublik über. Für „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ wurde er 2011 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Roman „Follower“. Am 22. September um 18 Uhr eröffnet Potsdams neue Intendantin Bettina Jahnke ihre erste Spielzeit am Hans Otto Theater mit einer Adaption von „In Zeiten des abnehmenden Lichts“

Eugen Ruge

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