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Ums Mitgestalten geht es in der Bürgerbühne - so wie in dem Kinderstück „Haus Blaues Wunder“ .

© HOT/Jauk

Eine Bürgerbühne für Potsdam: „Theater ist ein Ort der Teilhabe“

Wie will das Theater neues Publikum erreichen? Und wie steht es um den Nachwuchs? Die Theaterpädagogen Manuela Gerlach und Michael Böhnisch im Gespräch über die Märchenzeit, neue Themen im Jungen Theater und die geplante Bürgerbühne.

Frau Gerlach, Herr Böhnisch, welche sind die Lieblingsgeschichten Ihrer Kindheit?
 

GERLACH: (nach langem Schweigen) Das habe ich noch nie preisgegeben. Ich komme aus einem Schlaatz ähnlichen Neubauviertel in Bremen und kam als Kind mit keinem Theater in Berührung. Auch wurde bei uns kaum vorgelesen. Ich hatte tatsächlich erst im Studium meine ersten Theatererfahrungen. Deshalb ist vielleicht meine Faszination so groß, Theater vermitteln zu dürfen.

BÖHNISCH: Puh. Mir fallen so viele Geschichten ein. Vor allem bin ich ein großer Fan von Michael Ende und seiner Unendlichen Geschichte: Dass man sich eine so große Welt ausdenken kann, um dann in ihr zu leben, das hat mich fasziniert. Und als ich im Film das arme Pferd im Sumpf ertrinken sah, wühlte mich das total auf. Das sind Bilder, die bleiben.

Das diesjährige Weihnachtsmärchen ist „Ronja Räubertochter“. Haben die Grimmschen Märchen ausgedient?

BÖHNISCH: Es wäre kurzsichtig, zu sagen, dass Weihnachtsmärchen nur Grimmsche Märchen bedeuten. Für mich beinhaltet Weihnachtsmärchen eher, dass man eine phantastische Geschichte erzählt, die sowohl aktuell ist, aber auch an die Kindheit der älteren Generationen erinnert. Ich glaube, das sind schon die Grimm-, Hauff- und Andersen-Märchen, aber eben auch Geschichten von Lindgren und anderen Autoren des 20. Jahrhunderts, wo man das Gefühl hat, man verbindet damit auch ein Stück Kindheit. Weihnachtsmärchen beschwören Familie, Zusammengehörigkeit, das Zusammenrücken. Und da haben wir uns eben für Ronja entschieden, die seit über 35 Jahren in den Kinderzimmern rumgeistert und auch Erwachsene begleitet.

GERLACH: Das Spielzeitthema „Haltung“ war auch entscheidend und diese ganz starke Mädchenfigur!

Die Theatertpädagogen Manuela Gerlach und Michael Böhnisch.
Die Theatertpädagogen Manuela Gerlach und Michael Böhnisch.

© Andreas Klaer

Frau Gerlach, Sie sind fast ein Vierteljahrhundert am Hans Otto Theater, haben mit Jugendlichen die verschiedensten Stücke erarbeitet. Haben sich die Themen im Laufe der Jahrzehnte verändert?

GERLACH: Es gibt immer dieselben Grundthemen. Es geht um Identitätssuche, die erste Liebe, um geschlechtliche Orientierung. Aber gerade diese Orientierung wird heute völlig anders diskutiert als vor 24 Jahren, als ich hier anfing.

Offener?

GERLACH: Unbedingt. Es gibt die ganzen Modelle, was ich alles sein kann. Nicht mehr nur Mann oder Frau, schwul oder lesbisch. Facebook nennt 60 geschlechtliche Ausrichtungen. Diese Diversität und Vielfalt ist neu und auch die Globalisierung und Digitalisierung. Das Netz hat andere Themen gebracht.

BÖHNISCH: Ich würde sagen, die Themen Nähe, Beziehung, Familie sind geblieben. Aber die Schauplätze, auf denen die Themen verhandelt werden, verändern sich. Was früher die Szene auf dem Schulhof war, ist jetzt eine Szene im Internet.

GERLACH: Ich nehme nochmal das Stichwort Digitalisierung und das Phänomen Hikikomori. Das sind Jugendliche, die sich komplett zurückziehen, keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Es kommen völlig neue Verhaltensweisen durch die Globalisierung und Digitalisierung auf.

Aber Vereinsamung gab es auch vor dem Internet.

GERLACH: Diese unendliche Überforderung der Globalisierung führt aber dazu, dass man sich komplett verweigert. Und das ist für mich das Neue.

Die erste Inszenierung unter neuer Leitung war die von Ingeborg von Zadows „Haus Blaues Wunder“: das große Thema sozialer Unterschied wurde für kleine Leute heruntergebrochen.

GERLACH: Solche Stoffe suchen wir, dass sie für alle Altersgruppen funktionieren, auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Bin ich arm, bin ich reich? Gibt es Möglichkeiten des Zusammenlebens über soziale Schichten hinweg? Diese Themen betreffen Kinder und Erwachsene.

BÖHNISCH: Wir wollen auch keine leichten Lösungen anbieten. Manche Themen spiegeln grundsätzliche Konflikte, wie „Haus Blaues Wunder“. Das Theater will Reibungen erzeugen und auch zeigen, dass man Konflikte aushalten muss.

GERLACH: Haben oder Sein ist ein großes Thema und es ist so schön, es mit Kindern zu bearbeiten. Um gerade jenen, die wenig haben, Perspektiven zu eröffnen. Das empfinden wir als pädagogischen Auftrag: zu zeigen, dass sich niemand als Verlierer fühlen muss. Dass ganz andere Werte eine Rolle spielen können, um glücklich zu sein als Besitz.

Wie arbeiten Sie diese Themen auf?

GERLACH: In der Handreichung geben wir den Lehrern Hintergrundinformationen zu den Inszenierungen und machen spielerische Vorschläge für die Vor- und Nachbereitung: entweder durch die Schule oder durch uns. Und für den 16-plus-Bereich macht Michael jetzt noch verstärkt Angebote.

BÖHNISCH: Für diese Abo-Veranstaltungen, die eher für das ältere Publikum inszeniert worden sind, gebe ich begleitende Workshops, die für junge Leute ein Handwerkszeug des Sehens sind.

Ihnen wird also ein Teppich ausgerollt?

BÖHNISCH: Ja. Zum Beispiel bei „Othello“. Da geht es im Workshop um Methoden der Manipulation. Die Jugendlichen sollen durch das eigene Spiel merken, wie sie manipuliert werden und wie sie sich dagegen wappnen können.

Ähnlich wie bei der „Welle“?

BÖHNISCH: In diese Richtung. Wenn sie die Arten der Manipulation selbst durchleben, werden sie mit einer ganz anderen Perspektive auf das Stück gucken.

GERLACH: Wir geben ihnen das Rüstzeug, sich in einem geschützten Raum über Manipulation austauschen zu können. Die Bühne hat das Potenzial, Probe auf die Zukunft zu sein.

Wie steht es mit der Nachfrage nach dem Abo im Jungen Theater?

GERLACH: Sie ist stetig gewachsen auf jetzt rund 7800. Wir hatten über die Jahre keinen Einbruch. Auch unter Tobias Wellemeyer konnten wir es steigern.

Es gab Zeiten, da das Kinder- und Jugendtheater aus der Mitte des Ensembles gestaltet wurde. Jetzt wird nur mit Gästen gespielt. Steht das Junge Theater am Rand?

GERLACH: Es gab über die Jahre verschiedene Modelle. Wir hatten auch schon eine eigene Sparte und ein eigenes Ensemble. Tobias Wellemeyer wollte das Junge Theater aus der Mitte heraus bestreiten. Fakt ist aber, dass wir am Ende unter Wellemeyer trotzdem fast ausschließlich mit Gästen gearbeitet haben. Inzwischen gibt es einen sehr großen Pool an Schauspielern, die gern mit uns in dem Bereich arbeiten. Und das führen wir jetzt so weiter. Eine eigene Sparte würde mehr Kapazität und Aufmerksamkeit erfordern. Aber wir haben einen neuen Schwerpunkt und der heißt: Aufbau der Bürgerbühne!

Sie erobern sich über die Theaterpädagogik hinaus also einen ganz neuen Bereich?

GERLACH: Das Interessante ist, dass die Theaterpädagogen häufig Trendsetter in solchen Entwicklungen sind: durch die Jugendklubarbeit, die ja diese partizipativen Konzepte schon immer verfolgt. Da kommt vieles her. Bei den Erwachsenen, den Experten des Alltags, die Berufs- und Lebenserfahrungen mitbringen, ist es aber nochmal etwas anderes.

Was genau ist eine Bürgerbühne?

GERLACH: Sie ist ein Forum für die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt. Da geht es nicht darum, einen Text eins zu eins mit Laien gut oder weniger gut auf die Bühne zu bringen, sondern tatsächlich darum, ihre Lebensgeschichten, ihren Alltag zum Gegenstand der Bühne zu machen. Da sind wir als Theaterpädagogen besonders wichtig, weil wir die nicht üblichen Theaterformen auch bedienen können: Performance, Aktionen im öffentlichen Raum, Rechercheprojekte, biografisches Theater und so weiter. Die kennen wir aus der Jugendtheaterarbeit. Jetzt bekommen sie nochmal eine andere Wertigkeit.

BÖHNISCH: Es ist ja ein Irrtum, dass Theaterpädagogen nur mit jungen Menschen arbeiten. Wir haben Methoden gelernt, wie man Menschen auf einem Forum zum Sprechen bringt. Die Bürgerbühne ist nichts, was man den Leuten aufpfropft, nach dem Motto: Wir suchen jetzt 20 Leute, die im Chor ihre Geschichten vorsingen. Wir warten ab, wer kommt, was die Leute mitbringen, welche geeignete Form es für ihre Geschichten gibt.

GERLACH: Wir kommen nicht mit einem Konzept und suchen uns danach die Leute aus, sondern umgekehrt. Unsere Aufgabe ist es, die Bürger dieser Stadt, die ja nicht professionelle Theaterleute sind, professionell aussehen zu lassen. Wir haben einen großen Koffer an Möglichkeiten, den wir ihnen an die Hand geben.

Es gibt schon viele Mitmach-Formen in der Stadt: im ErzählWerk, in Chören, im T-Werk. Warum ist es notwendig, dass sich auch das Stadttheater dessen annimmt?

GERLACH: Es geht ums Vernetzen, um ein Dach. Die Grundfinanzierung ist über das Theater gesichert und wir wollen uns in die Stadt und auch ins Land hinein verbinden. Ich bin gerade dabei, Projektförderungen zu akquirieren. All diejenigen, die schon Bürgerbühnen gemacht haben, wie in Brandenburg oder Frankfurt (Oder) können das auch hier bei uns machen. Alle finden einen Raum.

BÖHNISCH: Wir gehen weg davon, dass Theater nur ein Ort des Sehens ist. Er ist auch ein Ort der Teilhabe.

GERLACH: 2009 ist die erste Bürgerbühne an den Start gegangen: in Dresden unter dem Intendanten Wilfried Schulz. Seitdem bilden sich europaweit Bürgerbühnen. Und das, was wir gerade erleben, dass Menschen meinen, sie werden nicht mehr gehört, ist nach wie vor ein Riesenproblem, wie die aktuellen Wahlergebnisse zeigen. Es ist also ein wichtiger Auftrag, den wir mit der Bürgerbühne haben.

Der Dresdener Auftakt ist neun Jahre her. Hat Potsdams Bühne die Zeit verschlafen?

GERLACH: Die Bürgerbühne war immer mal im Gespräch. Aber es war auch die Frage, wie können wir es räumlich und personell schaffen. Jetzt haben wir uns entschieden: Im Jungen Theater sind die Strukturen gelegt. Und wir nehmen etwas Neues dazu, weil es uns in der jetzigen Zeit als unheimlich wichtig erscheint.

Wann geht es los?

GERLACH: Am 27. Januar um 11 Uhr beginnen wir mit dem Bürgerfrühstück „Pots-munter“. Es leitet sich ab vom Bürgerdinner. Da versucht man Menschen an einen Tisch zu bringen, die sonst nie zusammensäßen: Menschen aus der Berliner Vorstadt und vom Schlaatz, Hebammen und Menschen, die mit dem Sterben zu tun haben.

Sie warten nicht nur ab, wer kommt, sondern laden auch ein?

GERLACH: Ja, beides. Wir haben einen Praktikanten, der durch die Stadt geht und die Bürger befragt, was sie sich wünschen.

BÖHNISCH: Wir wollen uns nicht anmaßen, zu sagen, was die Bürger wollen. Ihnen nicht Themen vorsetzen. Die Bürger sind Experten des Alltags und wir geben ihnen einen Rahmen, dieses Wissen öffentlich zu machen.

GERLACH: Es wird jedenfalls in der kommenden Spielzeit eine Bürgerbühnenproduktion geben. Und es besteht auch schon Interesse für ein kleineres Projekt: Gehörlose äußerten den Wunsch, selber auf der Bühne stehen zu wollen.

„Ronja Räubertochter“ hat am 9.11. um 10 Uhr im Großen Haus Premiere

Michael Böhnisch, 1984 in Cottbus geboren, studierte Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaft in Leipzig sowie Theaterpädagogik in Berlin. Er ist neu am HOT.

Manuela Gerlach, 1963 in Bremen geboren, studierte Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Theaterpädagogik. Seit 1994 ist sie als Theaterpädagogin am Hans Otto Theater engagiert.

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