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Kultur: Eine Alternative zur Gewalt

Potsdamer Winteroper: Lydia Steier inszeniert Händels Oratorium „Jephtha“ in der Friedenskirche

Was tut ein Opernunternehmen, wenn ihm vorübergehend die Spielstätte abhanden kommt? Die Potsdamer Winteroper zeigt, dass die naheliegendste Lösung nicht die schlechteste Lösung sein muss: Wegen der Renovierung des Schlosstheaters Sanssouci zieht sie vorübergehend in die Friedenskirche. Auch die Wahl des Stückes, Georg Fridrich Händels Oratorium „Jephta“, das in einer szenischen Aufführung geboten wird, ist beziehungsreich: Schließlich wandte sich Händel der Gattung Oratorium zu, als ihm die Aufführung von Opern durch äußere Umstände erschwert wurde.

Dass Händel seine Oratorien nicht für die reale Bühne, sondern für das Theater im Kopf seiner Zuhörer schrieb, macht sie für zeitgenössische Regieansätze besonders interessant: Gerade Stücke mit alttestamentarischen Themen wie „Jephtha“ besitzen nicht nur nur eine archaische Kraft – hier muss sich auch niemand an den Regeln und Konventionen der barocken Dramaturgie abarbeiten.

Überdies zeigen die Regisseurin Lydia Steier und die Bühnenbildner Elisabeth Vogetseder und Conrad Moritz Reinhardt, dass sie mit der Vereinbarkeit von Bühne und Kirchenraum bestens umzugehen wissen. Sie verwandeln das Kirchenschiff in den atmosphärischen Studiensaal eines altertümlichen Colleges: In der Mitte befindet sich ein länglicher, als laufstegartige Bühne dienender Tisch mit Fächern für Bücher und allerhand anatomische Studienobjekte. An ihm sind zu beiden Seiten die im Stil des frühen 20. Jahrhunderts gekleideten Studenten (der aus Vokalakademie Potsdam und Vocalconsort Berlin gebildete Chor) aufgereiht, sodass die dahinter platzierten Zuhörer sowohl akustisch als auch optisch in das Geschehen einbezogen werden.

Lydia Steier scheut sich nicht, das erzählerische Moment, das neben dem Dramatischen auch in Händels Oratorien steckt, in ihre Konzeption einzubinden: Sie inszeniert das heftig gekürzte Stück als Vorlesung: Eine Professorengestalt (Christian Ballhaus) führt als Sprechrolle durch das Werk: Er spricht von den Menschenopfern der Ammoniten, die das Volk Israel unterdrücken und ruft zum Widerstand auf. Immer stärker werden die jungen Zuhörenden, die für die junge Generation der Israeliten stehen, in das Geschehen hineingezogen: Es findet sich ein Anführer (Jephtha), der bereit ist, den Befreiungskampf aufzunehmen. Er schwört, das erste Wesen, das ihm bei seinem Sieg begegnet, zu opfern – und sieht seinen moralischen Fehler, als er erkennen muss, dass es seine Tochter ist, die ihn als Sieger begrüßt. Lydia Steier, die in den Vereinigten Staaten unter strengen Zionisten aufwuchs und, wie sie im Programmheft erläutert, erst in Europa eine differenziertere Sichtweise auf die Entwicklung in Israel und dem Westjordanland nach 1945 kennengelernt habe, erzählt mit ihrer Inszenierung auch einen persönlichen Erkenntnisprozess – und tatsächlich gelingt es ihr an vielen Stellen, auch ihr Publikum in ihre Geschichte hineinzuziehen. Sie entfernt sich dabei auch gar nicht so drastisch von Händel und seinem Librettisten Thomas Morell, wie man das auf den ersten Blick vermuten möchte. Denn auch Morells und Händels „Jephtha“ ist das Ergebnis eines Aufklärungsprozesses. Dies wird nirgendwo so deutlich wie in dem oft belächelten Schluss, in dem Jephtha – abweichend vom Bibelwort – erkennt, dass es für ihn eine Alternative zur Gewalt gibt.

Dass Händel und Morell den Schluss änderten, geschah nicht einfach für ein billiges Happyend. Wahrscheinlich nahmen sie vielmehr Bezug auf aufklärerische Bibelkommentatoren wie Samuel Humphreys. Diese mochten die brutale Konsequenz von Jephthas Gelübde nicht akzeptieren, sondern versuchten in der biblischen Passage einen Übersetzungsfehler nachzuweisen. Steiers Regiekonzept ist also durchaus auf mehr als einer Ebene stimmig. Dass man ihr trotzdem an vielen Momenten nicht folgen mag, liegt an der Ausarbeitung im Detail: Wenn Maria Streijffert die Schreckensvisionen von Jephthas Frau Storgè am Diaprojektor mit Fotos verstümmelter Leichen bebildern muss, dann wirkt das nicht nur degoutant, sondern lässt auch ihren kraftvollen, emotionsgeladenen Vortrag plötzlich unangemessen erscheinen – weil Händel gar nicht den Anspruch erhebt, realen Horror zu beschreiben.

Und obwohl die Regisseurin bei der Zeichnung anderer Situationen durchaus zeigt, dass sie Seelenzustände differenziert darzustellen weiß, gerät ihr der Chor, den sie als beeinflussbare und ziemlich kindische Masse charakterisiert, oft zu einer bloßen Karikatur. Die größere Überzeugungskraft des Abends liegt daher in der musikalischen Interpretation. Beeindruckend ist schon allein, wie präzise und intonationsrein der Chor die unterschiedlichsten Aufstellungen im Raum meistert. Vor allem aber sorgt der musikalische Leiter Konrad Junghänel für eine frische Sichtweise auf Händel, den er nämlich nicht nur als Schöpfer wuchtiger musikalischer Monumentalgemälde archaischer biblischer Themen, sondern auch als Kind der Frühaufklärung ernst nimmt: Selbst in massigen Chören entdecken er und die äußerst transparent aufspielende Kammerakademie Potsdam jene individuell empfundenen Seufzerfiguren, die später einmal zum musikalischen Emblem des Zeitalters der Aufklärung werden sollten.

Und wenn Jephtha schließlich in einer betont modernen, galanten Arie von seinem strengen Gelübde befreit wird, dann wirkt das plötzlich nicht mehr aufgesetzt, sondern konsequent. Bei alledem versteht sich Junghänel zugleich immer als Diener der Sänger. Dies kommt besonders Lothar Odinius in der Rolle des Jephtha zugute, dem das Orchester bis in die kleinsten Feinheiten seiner zwar kraftvoll, aber oft liedsängerhaft differenziert gestalteten Stimmungsbilder präzise folgt. Stark in liedhaft schlichter Kantilene ist auch Katja Stuber in der Rolle von Jephthas Tochter Iphis. Besonders glücklich verbinden sich Musik und Szene in Dialog und Duett mit Magid El Bushra, der die Rolle von Iphis Liebhaber Hamor spielt und der mit seiner wunderbar ausgeglichenen, jugendlichen Countertenorstimme die Sängerentdeckung des Abends ist. Das pubertäre erotische Verlangen, das beide in Händels Seufzermotivik erspüren, zeigt eindrucksvoll, wie wenig diese Musik äußerlicher Aktualisierung bedarf.

Weitere Aufführungen vom 29.11. bis 1.12. jeweils 19 Uhr

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