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Doku „Linie 41“: Der Kampf mit der Vergangenheit

Die Doku „Linie 41“ begleitet zwei Männer durch die polnische Stadt Lódz und ihre NS-Geschichte

Von Sarah Kugler

Eine Stadt, zwei Männer – vollkommen unterschiedliche Lebenswelten. Natan Grossmann und Jens-Jürgen Ventzki lebten beide als Kinder in der von Nazis besetzten polnischen Stadt Lódz. Während der eine als Jugendlicher im Lódzer Ghetto fast den Hungertod stirbt, wird der andere in jene wohlhabende Bürgermeisterfamilie hineingeboren, die das Elend im Ghetto mit zu verantworten hat. Regisseurin Tanja Cummings hat die beiden Männer in ihrer Dokumentation „Linie 41“, die am vergangenen Mittwoch im Rahmen des Jüdischen Filmfestivals Berlin Brandenburg im Filmmuseum Potsdam zu sehen war, aufeinandertreffen lassen. Herausgekommen ist dabei nicht nur eine tiefe Freundschaft, sondern auch ein aufwühlender Film über die Aufarbeitung von NS-Verbrechen.

Acht Jahre lang hat Cummings an „Linie 41“ gearbeitet. Angefangen hat alles mit Lesestoff, der von einem Lódz vor dem Krieg erzählte. „Mir kam dann irgendwann die Frage auf, was während des Krieges in dieser Stadt passierte“, sagte Cummings am Mittwoch im Filmmuseum. Es folgte eine Suche nach Zeitzeugen – und die Entdeckung der Linie 41. Eine Straßenbahn, die mitten durch das Ghetto der Stadt fuhr und die Jüdischen Bewohner zu einer Art Zootier machten. Im Film erzählt ein deutscher Zeitzeuge, wie er als Jugendlicher trotz Verbot der Eltern heimlich mit der Bahn gefahren ist, um es den älteren Jungs gleich zu tun. Zu Hause wurde nicht darüber geredet. Das Ghetto, in dem Juden in ärmsten Verhältnissen lebten, war ein Tabuthema. Auch in Jens-Jürgen Ventzkis Familie wurde nie darüber gesprochen. Er selbst war noch zu klein, um die Situation zu begreifen, wie er am Mittwoch sagte. Aber auch nach dem Verlassen der Stadt kam das Thema nicht auf. „Meine Eltern haben ja nicht einmal von Lódz gesprochen“, so Ventzki. Für sie sei die Stadt immer Litzmannstadt geblieben, der Name, der ihr von den Nazis im Zuge ihrer Germanisierung gegeben wurde. Welche große Funktion sein Vater in dem ganzen System eingenommen hat, sei ihm erst ab den 1990er-Jahren bei seinen Recherchen, die auch der Film widerspiegelt, bewusst geworden. „Seitdem lebe ich quasi mit zwei Vätern“, so Ventzki, der seine Geschichte auch in dem Buch „Seine Schatten, meine Bilder: Eine Spurensuche“ aufgearbeitet hat. „Und der eine davon ist ein Verbrecher.“

Eine solche Position zu seinem Vater zu beziehen, bezeichnet Natan Grossmann als heldenhaft. Ob er es selbst schaffen würde, über ein Elternteil so zu richten, wisse er nicht. Im Jahr 1927 geboren, verbrachte er einige Jahre im Lódzer Ghetto, erst mit 17 Jahren kam er raus – mit einem Auschwitztransport. Seine Aussage im Film „Auschwitz war meine Rettung“ mutet seltsam an, sei jedoch in seinem Fall die Wahrheit, wie er am Mittwoch sagte. „Natürlich war es dort kein Paradies, aber ich hatte Essen, Arbeit als Schmied und war kräftig genug, den Morgenappell zu überstehen.“ Nach der Befreiung ging er nach Israel, die Vergangenheit wollte er nur vergessen. Erst die Suche nach seiner Familie und vor allem dem verloren gegangenen Bruder, von der der Film erzählt, brachte ihn wieder mit Lódz in Berührung. Seine Heimat hat er jedoch hierzulande gefunden. „Ich lebe jetzt in einem neuen Deutschland“, sagte er. „Wir müssen aufpassen, dass es auch so bleibt, denn es ist ein wunderbares Deutschland.“

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