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Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) war bei "Scobel fragt" im Potsdamer HOT zu Gast.

© picture alliance / Kay Nietfeld/

Diskussion im Hans Otto Theater: Wolfgang Thierse bei "Scobel fragt" in Potsdam

Wolfgang Thierse und Eva von Redecker setzten sich bei „Scobel fragt“ in Potsdam mit der Möglichkeit einer Revolution auseinander.

Potsdam - Wenn die politischen Ereignisse des Herbst 1989 als „Wende“ bezeichnet werden, behagt das Wolfgang Thierse (SPD) überhaupt nicht. „Ich verabscheue ihn fast“, sagt der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages über den Begriff am Dienstagabend im Großen Haus des Hans Otto Theaters. Geprägt habe ihn nämlich der letzte SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender der DDR, Egon Krenz, als dieser in seiner Antrittsrede am 18. Oktober 1989 von einer nötigen „Wende“ durch die SED sprach und diese mit „Liebe Genossinnen und Genossen“ eröffnete.

Allein deshalb werde das Wort dem „ostdeutschen Beitrag zur europäischen Geschichte“ nicht gerecht, denn auch die letzte Regierung der DDR habe damals nicht begriffen, worum es den Menschen im Land gegangen sei, nämlich um einen „Einsatz für Demokratie“. Darum sei „Friedliche Revolution“ die bessere Bezeichnung.

Warum bleiben Veränderungen aus?

Gestellt hatte die Frage nach der Wende der Fernsehmoderator Gert Scobel, der Wolfgang Thierse und die Philosophin Eva von Redecker zu der Talkrunde „Scobel fragt“ am Dienstagabend in das Potsdamer Theater eingeladen hatte. Vor dem Hintergrund jener friedlichen Revolution sollte es bei der Veranstaltung um die Chancen und Risiken revolutionärer Bewegungen gehen. Und darum, warum trotz aktueller drängender Probleme wie das zunehmende soziale Gefälle, der Rechtsruck oder Klimawandel grundlegende gesellschaftliche Veränderungen ausbleiben. Dynamisch ging es mit diesem Einstieg im nicht vollständig gefüllten Saal zu, und so sollte es auch die nächsten zwei Stunden bleiben. Die Runde begab sich in ein komplexes und vielschichtiges Gespräch.

Die Gäste gerieten aneinander

Mit Von Redecker und Thierse trafen zwei Gäste aufeinander, die sich sehr unterschiedlich dem Thema des Abends näherten. Von Redecker als junge Geisteswissenschaftlerin betrachtete den Begriff der Revolution eher in der Theorie, Thierse brachte sich als Zeitzeuge des Mauerfalls und als erfahrener Politiker ein – und dominierte damit den Abend. Einige Male kam es auch dazu, dass sich der ehemalige Bundestagspräsident an einzelnen Begriffen und Aussagen der Philosophin störte. Als Von Redecke zum Beispiel sagte, die Bundesrepublik Deutschland sei mit der Wiedervereinigung im Annexionswahn gewesen, warf ihr Thierse vor, dass sie mit ihrer Aussage die Ostdeutschen nicht ernstnehme. Schließlich hätten diese aktiv und in der Mehrheit für das Zusammengehen von DDR und BRD gestimmt. Das führte dazu, dass das Gespräch am Dienstag teilweise in bereits vielfach geführten Diskussionen um Probleme zwischen Ost- und Westdeutschen und dementsprechenden Klischees steckenblieb. Gleichzeitig führte das Gespräch der beiden einen der Gründe vor, warum gesamtdeutsche Massenbewegungen eben aktuell nur schwer denkbar sind.

Eva von Redecker war ebenfalls als Gast geladen und diskutierte mit Wolfgang Thierse.
Eva von Redecker war ebenfalls als Gast geladen und diskutierte mit Wolfgang Thierse.

© Philosophie Magazin

Vorwurf: Keine Selbstwahrnehmung

Einig waren sich Thierse und Von Redecker dann aber darin, dass das Erstarken der AfD in den neuen Bundesländern unter anderem mit den Erfahrungen der Menschen nach 1989 zu tun habe. Auf überstandene Veränderungen folgten durch die Aufnahme von Geflüchteten neue Veränderungen, und die würden aggressiv abgewehrt, so Thierse. „Es macht mich betroffen, dass Ostdeutsche nicht fähig sind zu positiver Selbstwahrnehmung“, sagte er. Denn die friedliche Revolution und alles, was die Menschen im Osten nach der Wiedervereinigung durchgestanden hätten – Massenarbeitslosigkeit beispielsweise –, sei eine große Leistung gewesen.

Das Gespräch verlor sich

Nun ist es grundsätzlich leichter, Ereignisse der Vergangenheit zu bewerten als die Gegenwart oder gar die Zukunft – warum es den Gästen nicht schwerfiel, aufzuzeigen, was die 89er-Revolution möglich gemacht hat: Das Ende einer Diktatur. Mit einem Blick auf die Gegenwart, die instabilen politischen Verhältnisse weltweit, verlor sich das Gespräch aber eher in Feststellungen: Ja, es gibt eine Klimakrise, es gibt einen Rechtsruck, es gibt soziale Ungleichheit. Wie es weitergeht? Schwer zu sagen. Revolution? Nicht in Sicht. Hier hätte es durchaus spannend sein können, sich eine aktuelle politische Bewegung tiefergehend anzusehen und diese zu bewerten – zum Beispiel „Fridays for Future“.

Die Bewegung wurde zwar kurz erwähnt, hier wollte allerdings nicht so recht deutlich werden, welches Potenzial die Gäste der Talkrunde eigentlich in der Klimabewegung sehen. Das Thema wurde im Vergleich zur Revolution von 1989 nicht tiefgreifend behandelt – das Gefühl, hier Antworten auf die Frage nach Möglichkeiten einer Revolution zu erhalten, stellte sich einfach nicht ein.

Im Fazit waren sich beide Gäste aber immerhin darüber einig, dass vor allem eines vorhanden sein müsse, wenn die „Fridays for Future“-Bewegung bestehen bleiben will: Hoffnung. Denn „Ohne Hoffnungsüberschuss geht es nicht“, sagte Thierse.

Andrea Lütkewitz

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