zum Hauptinhalt

Kultur: Dieses Heimatgefühl

Juri Andruchowytsch stellt in Potsdam seine neuesten Essays vor

Es gab Zeiten, da musste Juri Andruchowytsch auf Lesungen in Deutschland immer wieder klar stellen, dass er aus der Ukraine kommt und nicht einfach nur aus Russland. Diese geografische Verallgemeinerungsfloskel, mit der man hierzulande gern alles, was östlich der polnischen Grenzen liegt, bezeichnet, behagte Andruchowytsch nie. Er ist einer, der genau hinschaut. Und auch von seinem Gegenüber ein Mindestmaß an Genauigkeit verlangt.

Mit seiner Essaysammlung „Das letzte Territorium“ ist der Schriftsteller Juri Andruchowytsch vor knapp vier Jahren in Deutschland bekannt geworden. Auf 180 Seiten durchwandert er die geografischen und menschlichen Eigenheiten rund um seiner Heimatstadt Stanislau, ukrainisch: Iwano-Frankiwsk. Dabei überschreitet Andruchowytsch Grenzen, ohne sie jedoch zu verwischen. Sein neueste Essaysammlung, Anfang Oktober im Suhrkamp-Verlag erschienen, stellt der 47-Jährige heute Abend im Litarturladen Wist vor.

Wer sich mit Andruchowytsch auf die Reise macht, muss sein Tempo drosseln und die Sinne schärfen. Und er muss sich einlassen auf die bildhafte Sprache, in der sich die „maritime Vergangenheit der Kaparten“ als „Seeschnecken, Meerlilien und Muscheln, Bartfäden vom Wal, Polypen, halbzerfallene Fischskelette, versteinerte Wirbel und Flossen, Kiefer von Meeresungeheuern, welche die Wissenschaft noch nie beschrieben hat, Rümpfe gesunkener Schiffe, von Gras und Vogelnestern überwuchert, (Spanten, Masten, manchmal nur mehr verblichene Taue und Segel)“ präsentiert, wie Andruchowytsch in „Das letzte Territorium“. Doch hat es nichts Märchenhaftes, mit Andruchowytsch unterwegs zu sein. Wie ein Reiseführer erzählt er in seinen Essays Geschichte und Geschichten und zieht einen ganz beiläufig hinein in das Geschehen, in das Leben seiner Heimat, so wie man es, nur allein auf sich gestellt, auf der Reise durch ein fremdes Land nie erleben kann. Fast möchte man sagen, dass eine Reise überflüssig wird, so lange die Bücher von Andruchowytsch zur Hand sind.

Neben den Essays in „Das letzte Territorium“, in „Mein Europa“, die er gemeinsam mit dem polnischen Autoren Andrzej Stasiuk geschrieben hat, und in „Engel und Dämonen der Peripherie“, sind es seine Romane „Zwölf Ringe“ und „Moscoviada“, in denen sich Andruchowytsch fast fühlbares Sprachtalent zeigt. Immer wieder nimmt er einen dabei mit in seine ukrainische Heimatregion um die Stadt Stanislau. Der Osten als Terra Inkognita. Denn daran hat sich hierzulande kaum etwas geändert. Auch Andruchowytsch Heimat Ukraine gegenüber nicht, trotz der „orangen Revolution“ vor fast genau drei Jahren, als die Menschen den langjährigen Präsidenten Leonid Kutschma nach offensichtlichen Wahlfälschungen aus dem Amt drängten und somit einen langsamen Demokratisierungsprozess einleiteten. Vielleicht kommt es jetzt seltener vor, das Andruchowytsch bei seinen Lesungen als Autor aus Russland bezeichnet wird. Doch noch immer gibt es zu wenige Berichte darüber, wie es sich lebt am äußersten östlichen Rande eines Europabegriffs, der manchem zu eng, manchem wieder zu weit gefasst ist.

Diese Diskussion greift Andruchowytsch indirekt in seinen Essays auf. Doch ist für ihn Europa nicht ein geografisches Gebiet, das er in Stanislau von der Peripherie her betrachtet, sondern direkt aus seinem Zentrum. Man muss sich nur gemeinsam mit diesem Autor auf die Reise durch seine Heimat machen, um zu erkennen, wie groß doch die Gemeinsamkeiten sind. Dirk Becker

Juri Andruchowytsch liest heute, um 20 Uhr, aus seinem Essayband „Engel und Dämonen der Peripherie“ im Literaturladen Wist, Dortustraße 17/Ecke Brandenburger Straße. Der Eintritt kostet 5 Euro.

Dirk Becker

Zur Startseite