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Wenn selbst nicht einmal mehr Schreien hilft. René Schwittay als Thomas Stockmann in Ibsens „Ein Volksfeind“ im fanatischen Kampf für seine Wahrheit.

©  HL Böhme

Kultur: Die Wahrheit in ihren vielen Farben

René Schwittay in Ibsens „Ein Volksfeind“ in einem aussichtlosen Kampf – Premiere am Freitag

Wahrheit, dieses niederträchtige Chamäleon, was macht es bloß aus den Menschen.

Thomas Stockmann hat sich in dieses Chamäleon verbissen. Umso fester, je deutlicher er die Farbe zu erkennen glaubt, die es ihm zeigt. Es ist die Farbe des Rechts, das er auf seiner Seite sieht. Was Stockmann aber nicht begreifen kann, begreifen will, ist die Tatsache, dass jeder dieses Chamäleon in einer anderen Farbe sieht. Und jeder behauptet, es ist die rechte.

Stockmann ist Badearzt in einer namenlosen Küstenstadt, die sich als Kurort etabliert hat. Weil mehrere Gäste in der vergangenen Saison an Allergien, Durchfall und gastrischen Beschwerden gelitten haben, hat Stockmann Nachforschungen angestellt. Er hat das Wasser, das die so gepriesenen heilenden Wirkungen haben soll und auf die der wachsende Wohlstand im Ort gründet, über einen längeren Zeitraum untersucht und festgestellt, dass es voller verfaulter organischer Stoffe ist. Und weil Stockmann jegliche windige, faktenverdrehende Diplomatie fern liegt, bringt er die Wahrheit, wie er sie sieht, unmissverständlich auf den Punkt: „Das Bad ist eine einzige gut getarnte Giftgrube. Gesundheitsgefährdend in allerhöchstem Maß! Der ganze Dreck aus dem oberen Mühltal, – der so ekelhaft stinkt, – der hat das Wasser in den Zuleitungen zum Brunnenhaus infiziert; und derselbe verdammte giftige Dreck sickert hinunter bis zum Strand.“ Dorthin, wo das Kurbad steht, der Stolz der ganzen Stadt.

„Ein Volksfeind“ ist der Titel des Schauspiels in fünf Akten, in dem Henrik Ibsen meisterhaft das Aufbäumen und Scheitern von Thomas Stockmann zeigt. Vor 129 Jahren wurde „Ein Volksfeind“ uraufgeführt. Am Freitag hat die Inszenierung in der Regie von Markus Dietz am Hans Otto Theater Premiere. In der Rolle des Thomas Stockmann wird René Schwittay zu erleben sein.

Zwischen den Proben hat sich Schwittay Zeit genommen für ein Gespräch über diesen, seinen „Volksfeind“. Es wird ein gut anderthalbstündiges, äußerst intensives Gespräch, in dem Schwittay nicht einfach nur über Thomas Stockmann redet, über dessen idealistischen Blick auf seine Wahrheit, sein so grundtiefes Vertrauen in diese Wahrheit, seine ohnmächtige Wut im Scheitern mit und das Umschlagen in einen regelrechten Fanatismus für seine Wahrheit. Nein, er sitzt nicht einfach nur an dem Tisch in der Theaterkantine und spricht. Immer wieder spielt Schwittay diesen Stockmann, ist da sein ständiges Ringen mit dieser Figur spürbar. Ein Ringen, das in den letzten Probentagen noch intensiver geworden ist, weil dieses Spielen ja immer auch ein Kampf ist. Ein sich Eingraben in einen Charakter, der so oft schon auf den Theaterbühnen zu erleben war, dass jeder Schauspieler seine eigene Wahrhaftigkeit in dieser Figur entdecken will, entdecken muss. Doch bevor René Schwittay sich so öffnet, fragt er fast schon vorsichtig, ob man vielleicht schon eine der beiden „Volksfeind“-Inszenierungen in Berlin gesehen hat.

Das ist vielleicht das Faszinierendste und gleichzeitig Interessanteste an diesem Theaterherbst in Berlin und Potsdam, dass gleichzeitig drei Lesarten dieses Ibsen-Klassikers zu erleben sind.

Im Maxim Gorki Theater hat Jorinde Dröse die Rolle von Stockmann mit Sabine Waibel besetzt. Die Frau sorgt hier für das Einkommen, der Mann besorgt den Haushalt. Eine Lesart, die ihren Reiz hat. Doch Jorinde Dröse überzeichnet die Figuren, lässt die Journalisten Hovstad und Billing, den Buchdrucker Aslaksen, vor allem aber Stockmanns älteste Tochter Petra als Karikaturen über die Bühne toben. Bei diesem Zwang zum Kabaretthaften kann die „Volksfeindin“ Sabine Waibel nur scheitern. Ganz anders Thomas Ostermeiers Inszenierung an der Schaubühne.

Ostermeier vertraut auf die Figurenzeichnungen Ibsens. Er zeigt Gespür für die feinen Risse in dieser kleinen Gesellschaft, die sich erst durch die Entdeckung des vergifteten Wassers zu Abgründen auftun. Schon in der ersten Begegnung von Thomas Stockmann mit seinem Bruder Peter, der als Bürgermeister dessen Gegenspieler ist, wird das Scheitern des Badearztes deutlich. Und wie hier Stefan Stern als Thomas und Ingo Hülsmann als Peter Stockmann miteinander ringen, sich so brüderlich bitterböse bekämpfen, ist das erschreckend nah. Weil Ostermeier auch Hovstad, Billing und Aslaksen nicht plump daherkommen lässt, zeigt sich wunderbar, wie farbenreich das Chamäleon Wahrheit sein kann, wenn Macht und ökonomische und ganz persönliche Interessen ins Spiel kommen.

René Schwittay selbst hat noch keine der Berliner Inszenierungen gesehen. Er sagt, das wäre auch nicht gut, jetzt, wo er sich so intensiv mit Thomas Stockmann auseinandersetzt. Und auch nach der Premiere wird er eine Zeit brauchen, um den nötigen Abstand zu bekommen, damit er sich anschauen kann, was andere aus diesem so unnachgiebigen Idealisten gemacht haben.

„Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Thomas Stockmann bewegt“, sagt Schwittay. Es ist der schmale Grat zwischen Wahrheitsempfinden und Rechthaberei. Wann wird der Kampf für eine Wahrheit zum reinen Selbstzweck? Wann schlägt die Verblüffung Stockmanns darüber, dass seiner faktischen Wahrheit doch nicht die notwendigen Maßnahmen folgen, in Ohnmacht und schließlich in Fanatismus um? „So viel zeigt diese reiche Ibsenwelt“, sagt Schwittay nachdenklich, um dann gleich wieder als Stockmann Grundsätzliches zu debattieren.

Es ist faszinierend zu beobachten, wie diese Rolle von Schwittay Besitz ergreift. Wie er mit ihr leidet, mit ihr kämpft und es in ihm kocht, weil der Druck von Außen immer größer wird. Weil die, die sich erst so huldvoll auf seine Seite geschlagen haben, jetzt seine Feinde sind. Ein hin- und hergerissener Mensch, fast schon zerrissen von dem Zwiespalt zwischen seiner idealisierten Wahrhaftigkeit und der Sicherheit für seine Familie. Ein Mensch, der sich verbissen hat in dieses niederträchtige Chamäleon namens Wahrheit. Und der in seinem Kampf, ob man ihn nun gutheißen will oder nicht, zeigt, wie zynisch Gesellschaft ist, wenn sie sich in ihren Interessen, in ihrer Weltanschauung nicht bedroht, sondern allein einfach nur schon belästigt fühlt.

Premiere am morgigen Freitag, 19.30 Uhr, im Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse. Karten unter Tel.: (0331) 98 118

Dirk Becker

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