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Verwandelt. Nina Gummich (Pauline, l.) und Friedemann Eckert.

© HL Boehme / HOT

„Die schönen Dinge“ - Premiere am Hans Otto Theater: Wonderwoman im Wunderland

Mit „Die schönen Dinge“ erzählt Wojtek Klemm am Hans Otto Theater vielschichtig übers Frausein.

Schön sind sie, die Dinge. Sie stapeln sich in rumpelkammerartigem Chaos auf der Bühne: Palmen, Geranien, Hockeyschläger und Spitzenschirmchen wachsen aus einer Telefonzelle, wuchernd wie eine Liane rankt sich die rote Lichterkette um das weiße Bett. Ganz oben auf einer der beiden mit Graffiti überzogenen Wände spreizt eine schöne Frau die Beine und befriedigt sich selbst. Die Seelen der Menschen aber, die sich durch diese urbane Dschungelszenerie kämpfen, sind ramponiert. Nicht, weil sie so gierig sind – nach Liebe, nach Sex und, ja, nach Geld. Das ist menschlich. Sie sind ramponiert, weil ihnen beim Jagen nach alldem jede Empathie für die Sehnsüchte der anderen verloren gegangen ist. Nicht nur den Männern, die in „Die schönen Dinge“ – Wojtek Klemms Inszenierung von Virginie Despentes Buch „Pauline und Claudine“ – natürlich ohnehin dauergeile, frauenverachtende Typen sind. Natürlich, weil Despentes als feministische Radikale – ihr Film „Baise-moi“, also „Fick mich“, aus dem Jahr 2000 war in Frankreich lange verboten – eine radikal weibliche Sichtweise vermittelt. Jeder, der zusieht, sieht die Welt mit Frauenaugen.

Als Klemms wilde, schöne und verspielte Despentes-Version am Freitag im Hans Otto Theater Premiere hat, fallen die scherenschnittartigen Zuschreibungen in bitter zustimmendes Lachen. Weil wohl jede Zuschauerin sie schon mal gedacht hat: „Männer schämen sich nicht für ihre halb verwesenden Körper.“ So bricht es aus Pauline, gespielt von der rasenden, tobenden, zerbrechenden Nina Gummich. Männer halten sich immer und zu jedem Zeitpunkt für einen geilen Fick. Frauen hingegen, nun, die „haben bis zu einem gewissen Alter noch die Chance, sich an Schwänzen zu reiben“, das, was sie eigentlich zu wollen glauben – geliebt werden – ist ihnen aber auf ewig versagt.

Und stellen sie sich doch der Tatsache, dass sie genauso an rohem Sex interessiert sind wie Männer, schlagen die zurück. Das ist nicht vorgesehen: Eine gierige Frau, die sich nimmt, was sie will. Oder, wie Despentes schreibt: „Unsere Klitoris funktioniert genauso wie ein Schwanz und will dringend befriedigt werden.“ Nur: Männer wollen davon nichts wissen, Lust ist ausschließlich ihre Angelegenheit. „Eine Frau wird dafür verachtet, dass sie ihre Lust herausbrüllt, während ein Greis, der einem jungen Mädchen nachpfeift, noch als rüstig gilt.“ Klar, dass man als Frau da nickt und lacht. Und vergisst, sich zu fragen, was das über einen selbst aussagt, über die Bequemlichkeit der antrainierten Opferrolle. Über den Autismus, mit dem man auf die eigenen Wünsche fixiert ist.

Stattdessen ist man leicht ganz bei Nina Gummich in diesem Stück, weil sie, als Missbrauchte, von den Männern Ausgebeutete, die Bühne dominiert. Ganz gleich, wie großartig fies, verführerisch und lustig René Schwittay als Musikproduzent und Zuhälter, Eddie Irle als brutaler, liebender und fremdgehender Lover und Friedemann Eckert als Freund und falscher Vertrauter sind. Es ist und bleibt Gummichs Show – aber es ist, anders als viele sagen, keine One-Woman-Show.

Denn Gummich spielt zwei: Pauline und ihre Schwester Claudine. Die ist zwar tot, aber in allem, was Pauline tut, überpräsent. Claudine hat ein glamouröses Leben in Paris geführt, als schlechte, aber schöne Sängerin, in den Betten all der Männer, die ihr Geld und Ruhm versprochen und sie dabei gebrochen haben. Als sie stirbt, greift Pauline sofort zu, endlich kann sie haben, was ihr die Schwester zeitlebens weggeschnappt hat: Die Liebe des Vaters, Paulines ersten Freund, den Claudine zwischen ihre Schenkel nahm, während die Schwester kurz den Raum verließ – die Liste des Verrats ist lang. Außerdem kann Pauline, im Gegensatz zu Claudine, singen. Klemm lässt sie zu den Beats und Soundteppichen von Marc Eisenschink rappen, repetieren, ihre Wut rausrotzen.

Und es funktioniert: Pauline geht, wie Alice, durch die Tür, die sie klein genug macht fürs Wunderland. Mit einer weißen Häschenmaske, als verängstigtes Wesen, schickt Wojtek Klemm sie in die Verwandlung – und schon kommen Irle, Schwittay und Eckart als irre Zeremonienmeister auf Rollschuhen hereingerauscht, in leuchtenden Gehröcken, bonbonfarbenen Halskrausen und Zylindern. Sie sind fabelhafte Verführer: Erst erniedrigen – „ih, da sind ja Haare!! an ihren Beinen“ – dann, wenn das Ego geknickt ist, ein bisschen Zucker, oder in diesem Fall Seifenblasen, in die Wunden pusten. Alte Männermasche, kennt jede. Pauline, trotzig und klug, fällt vielleicht nicht ganz darauf herein. Aber sie spielt mit. Sie will das Geld, mehr noch aber will sie den Triumph über ihre Schwester.

Und muss feststellen, dass sie sie über den Tod hinaus verrät: Als Sébastian (Eddie Irle), Paulines Liebhaber aus der Zeit, als sie noch Pauline war, zu ihr kommt, den mitgebrachten Teppich ausrollt und sie darauf durchnimmt – anders kann man diese brutale Choreografie, die Irle da abzieht, nicht nennen – begreift Pauline: Nicht sie ist es, die er so rasend begehrt, sondern ihre Schwester. Und er hat Claudine, für die er sie noch immer hält, hier nicht zum ersten Mal genommen. Pauline nimmt ihre Opferrolle an. Sie schickt ihn weg, nur um später wieder um seine Liebe zu betteln. Und stürzt sich noch besessener in ihr neues, Claudines altes, Leben. Sie muss einfach haben, was die Schwester hatte, auch wenn es sie zerbricht.

„Die schönen Dinge“ ist diese rasende Talfahrt, weil keine der Figuren in der Lage ist, sich von alten Verletzungen zu emanzipieren und so immer neue produziert. Sie taumeln im Chaos, umgeben vom Drunter und Drüber der schönen Dinge. Gebaut hat dieses Wunderland Anton Unai, kein klassischer Bühnenbildner, sondern bildender Künstler, einer mit „tiefem Glauben an die Heiligkeit der Spontaneität und die Poetik des Chaos“. Unais Bühne ist mehr als ein Bild. Sie ist Teil dieser dichten, vieldeutigen Performance und erinnert an die Installationen von Pipilotti Rist, der Schweizer Künstlerin, die in ihren Themen so nah ist an denen von Despentes. Sex, Erregung, weiblicher Körper. Das Rohe, das Klemm aus seiner Zeit bei Frank Castorf an der Volksbühne mitgebracht hat, transformiert er zusammen mit Unai zu etwas Brutal-Spielerischem, unbedingt Sehenswertem. Ariane Lemme

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