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„Die schönen Dinge“ in der Reithalle: Schnell leben, tief stürzen

Wojtek Klemm bringt „Die schönen Dinge“ der Skandalautorin Virginie Despentes auf die Bühne

Es gibt eine hübsche Anekdote darüber, wie die französische Skandalautorin Virginie Despentes zu dem Titel ihres nun in Potsdam für die Bühne adaptierten Romans kam. Die Anekdote geht so: Ein Kritiker, der über Despentes in Frankreich im Jahr 2000 verbotenen und auch in Deutschland viel diskutierten Film „Baise-moi (Fick mich!)“ schrieb, zitierte in seiner Rezension Jean Renoir, einen der Urväter des modernen französischen Films. Mit den Worten: „Filme sollten von schönen Frauen handeln, die schöne Dinge tun.“ Despentes Film ist nun aber ist ein wildes Roadmovie, in Frankreich darf er nur als Pornofilm gezeigt werden, sagt Wikipedia. Eine junge Frau wird darin vergewaltigt, fährt dann zusammen mit einer anderen in einem geklauten Auto durchs Land. Zusammen reißen sie Männer auf und schlachten diese dann ab. Schön? „Ach“, soll Virginie Despentes gesagt haben, als sie Renoirs Zitat las, „jetzt habe ich wenigstens einen Titel für mein neues Buch.“ Es hieß „Die schönen Dinge“.

Dieses Buch, 2001 auf Deutsch erschienen unter dem verschenkten Titel „Pauline und Claudine“, handelt wie viele von Despentes Büchern von Frauen, die versuchen, ihre eigene Vorstellung vom Leben, von Lust und von Sex zu verwirklichen – und damit scheitern. Das schreibt sich leicht dahin, aber wenn Frauenfiguren bei Despentes scheitern, dann scheitern sie nicht mit tschechowschen Stoßseufzern oder unterdrückten Tränen, sondern richtig. Sie scheitern wutschnaubend, mit geschundenem Leib und verkümmerter Seele. Despentes Frauen verbrauchen sich vollkommen. Sie wollen viel, aber anders als die tschechowschen Schwestern reden sie nicht nur, sondern leben auch, sie leben schnell, stürzen genickbrecherisch tief.

Am Freitag nun soll eine dieser Frauen in der Potsdamer Reithalle auf die Bühne kommen. Gespielt wird sie von einer ausgewiesenen Über-den-Rand-Gängerin: Nina Gummich. Sie wird Pauline sein. Die Potsdamer Bearbeitung erinnert sich der Mehrdeutigkeit des ursprünglichen Buchtitels und nennt die von Regisseur Wojtek Klemm und Dramaturg Helge Hübner erstellte, als Uraufführung angekündigte Theaterfassung wieder „Die schönen Dinge“.

Worum geht es? Als Regisseur Wojtek Klemm die Geschichte zusammenfasst, legt er beide Hände parallel auf den Tisch. Pauline und Claudine sind Zwillingsschwestern, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Die eine bürgerliche Erfolgsfrau in der Provinz, die gut singt, aber das nie genutzt hat. Die andere ein exzessiv lebender Möchtegern-Popstar ohne Gesangstalent, der sich durch die Reihen ihrer Förderer schläft. Claudine, das Popsternchen, stirbt zu Beginn der Geschichte. Pauline hingegen, Klemms eine Hand rutscht auf dem Tisch nach oben, lebt weiter – allerdings als ihre Schwester Claudine. „Die eine stirbt, die andere gibt ihr Leben“, sagt Klemm. Nicht etwa aus Liebe zur toten Schwester tut sie das, sondern – hier geht nicht um Gefühle, sondern um „Dinge“ – weil Claudine Geld braucht. In dem Image ihrer toten Schwester und dem eigenen Gesangstalent wittert sie eine Möglichkeit. Pauline lässt die bürgerliche Hülle hinter sich, schlüpft in die Kleidung, Gewohnheiten und Kreise ihrer Schwester. Gibt ihr eigenes Leben weg.

Ein bisschen erzählt sich der Plot wie eine Seifenoper. „Stimmt schon“, sagt Klemm, „aber Liebe ist doch immer auch Seifenoper. Die eine will nur geliebt werden, der andere will nur Sex. Geht es nicht oft um genau das zwischen Mann und Frau?“ In „Die schönen Dinge“ jedenfalls wird es darum gehen, um Paulines Versuch, sich im fremden Leben ihrer Schwester zurechtzufinden: in den Stöckelschuhen und dem Make-up-Sortiment, in den Hinterzimmern zudringlicher Produzenten und in den Betten zukünftiger Plattenbosse. In den Zwängen eines Milieus, das einen dazu zwingt, schön zu sein, ein schönes Ding eben.

Der Regisseur Wojtek Klemm arbeitet zum zweiten Mal in Potsdam, 2015 hat er hier „3000 Euro“ von Thomas Melle inszeniert. Innerhalb von drei Wochen stemmte er damals eine hochtourige, hochrhythmische Inszenierung, die ein großes Gespür für die Stärken seiner Spieler spüren ließ. Thematisch war „3000 Euro“ nah an „Die schönen Dinge“. Hier wie dort geht es um den Druck des Materiellen, die Euros und Dollars, von denen es immer entweder viel zu viel gibt oder viel zu wenig – und die Furcht, vom einen Extrem ins andere zu gleiten.

Dieser realexistierende Kapitalismus ist ein Hauptthema in Klemms Arbeit, etwas, das der gebürtige Warschauer, der nach wie vor viel in Polen inszeniert, auch dort kritisiert. Bei einem Gespräch vor einigen Jahren in Krakau sagte er bissig, Polen sei ein glückliches Land: „Es hat sich an die dunkle Seite des Turbo-Kapitalismus gewöhnt. Die Aufteilung der Welt in die, die dicke Autos haben und die, die nichts zu fressen haben, ist völlig normal.“ In der Kantine des Hans Otto Theaters sagt er Anfang 2017: „In der heutigen Welt wird man zerrieben. Zwischen Liebe und Geld. Das System frisst einen auf.“ Für ihn geht es in „Die schönen Dinge“, tief unter der Seifenopernfassade, um eben darum.

Zwei Jahre lang leitete Wojtek Klemm ab 2007 im polnischen Jelenia Gora ein Theater – bevor er dort ziemlich unsanft wieder entlassen wurde. Zu düster, zu vulgär fand man seine Inszenierungen, dabei brachte der an Frank Castorfs Volksbühne ästhetisch geschulte Regisseur lediglich eine großstädtische Bühnensprache mit – und den unverstellten Blick für die Wunden der Region, des Landes. Faschismus, Antisemitismus, das waren wenig publikumswirksame Themen. Auch den Autor Heiner Müller brachte Wojtek Klemm mit aus Berlin nach Polen. Brachte im Jahr 2009 Müllers „Zement“ zur polnischen Erstaufführung. Demnächst bereitet er die polnische Erstaufführung von Müllers „Philoktet“ vor.

Der Geschichtsaufarbeiter Heiner Müller und die Popfeministin Virginie Despentes – betriebsnormale Inkompatibilität im Leben eines freien Regisseurs, oder geht das doch irgendwie zusammen? Die sprachliche Fallhöhe von Despentes zu Müller will Klemm gar nicht wegreden, auch die Themen sind auf den ersten Blick grundverschieden. Aber dann zitiert der Regisseur einen Satz aus „Germania 3“. „Dunkel, Genossen, ist der Weltraum, sehr dunkel.“ Das legte Heiner Müller Juri Gagarin in den Mund. Wojtek Klemm findet, Pauline in „Die schönen Dinge“ könnte es genauso sagen.

„Die schönen Dinge“ hat am Freitag, dem 13. Januar, um 19:30 Uhr in der Reithalle (Schiffbauergasse 16 ) Premiere

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