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Wer rettet Luther vor seinen Huldigern? Das war die Frage, die für die Berliner Künstlerin Susanne Pomrehn den Anstoß für ihre aktuelle Arbeit im Kunsthaus gab. Mit den in mühevoller Kleinarbeit aufgehängten Bildausschnitten will sie zeigen: Wir kennen immer nur Fragmente unserer Ikonen.

© Sebastian Gabsch

Kultur: Die Lücken bei Luther

Eine Meisterin des Zerlegens: Susanne Pomrehns Raumkörper durchlöchert das Bild des Reformators

Schon wieder Luther? Wurde nicht bereits alles gesagt? Susanne Pomrehn interessiert nicht die bis in den Himmel reichende Krone, die über die Schatten erhaben ist. Sie gräbt sich zurück zu den Wurzeln und kappt mit scharfem Skalpell die politischen Blüten, die das Jubeljahr sprießen lässt. Dazu schneidet sie sich brutal durch Luthers Gesicht, sodass nur noch seine Augen „sprechen“. Wie in einem Thriller schauen diese freigelegten Augenpaare nun zigfach auf den Betrachter: forschend, eindringlich, provokant. Auch dieses weltweit bekannte Gesicht aus der Malwerkstatt Cranachs sagt nur annähernd etwas über das wahre Antlitz des Reformators. Wie sah er wirklich aus? Wie waren seine ursprünglichen Botschaften? Was haben wir im Laufe der Jahrhunderte aus ihnen gemacht? Biegen wir uns einen Helden zurecht, der sich gut verkaufen lässt – und sei es auf Tassen und Socken?

Die Berliner Künstlerin setzt in ihrer raumeinnehmenden Installation auf Lücken. Die sollen Durchsicht geben auf die darunter liegenden Schichten: vor allem auf seine eigenhändig notierten, unverfälschten Worte. Seit Tagen spannt die 55-Jährige feine Fäden unter das Holzgebälk im Kunsthaus und baut an einer Decke unter der Decke. Wie ein Zeltdach oder ein aufgeschlagenes Buch soll es aussehen und den Raum überwölben. Nicht wie eine immergrüne Baumkrone, eher wie ein durchlöchertes Gedankensieb. Man muss die Treppe nach oben steigen, um dem Prediger in sein vervielfachtes massakriertes Gesicht zu schauen. Von unten sieht man nur abstrakte Fragmente. Noch ist alles im Werden. Sonntag ist Vernissage. Immer wieder streckt die Künstlerin beim Gespräch den Rücken durch, verlagert das Gewicht von einem Bein aufs andere. Man spürt die Yoga-Frau. Körperlicher Ausgleich ist wichtig bei stundenlanger Schnittarbeit. Bevor sie die Fotoabzüge nun an die Fäden hängt, saß Susanne Pomrehn wochenlang oft bis acht Stunden am langen Holztisch in ihrem Berliner Atelier, um diese Augen feinsäuberlich auszuschneiden. Sie ist Meisterin im Zerlegen. So wie sie jetzt Luther zu Leibe rückt, hat sie um die Jahrtausendwende die eigenen Kinderbilder zerschnitten: kleine Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit Zacken drum herum. Das Skalpell wurde zum Bleistift, das neue Sichten zutage förderte. „Auch Schneiden ist wie Zeichnen.“ Dinge, mit denen sie auf den Fotos Schwierigkeiten hatte, umrundete sie mit dem Messer und bog sie heraus – wie bei Popup-Bildern. „Je komplexer ich schnitt, umso mehr ließ sich herausbiegen.“

Es ergaben sich unzählige Möglichkeiten, in die Familie einzugreifen. Von ihrer privaten Schnittkunst waren auch Bekannte angetan und brachten ihre Familienfotos mit, um sie ebenfalls zerlegen zu lassen. Natürlich die Abzüge und nicht die Originale. Auch diese Auftraggeber wollten aus ihren Erinnerungen etwas Neues entstehen lassen: zum Teil mit sehr poetischen und witzigen Facetten. Susanne Pomrehn ordnete die Vergangenheit neu: mit all ihren Lücken und Öffnungen – so wie jetzt bei Luther. Bevor sie damals ans Schneiden der Familienfotos ging, befragte sie die Besitzer nach den jeweiligen Situationen, wo, wann und wie die Aufnahmen entstanden seien. Jeder weiß ja um die „Sonntagsfotos“ mit aufgesetztem Lächeln, die das Links und Rechts und Dahinter ausblenden. Was erzählen sie über die wahre Situation? Beim Rollen, Falten und Kleben entstanden unter der Hand von Susanne Pomrehn ganze Schlangen und Knäuel von Foto-Adaptionen, die die Erinnerungen phantasievoll umranken oder zerstören.

Schließlich zog es die Künstlerin durch den Auftrag eines Kölner Galeristen aus dem Atelier hinaus und aus der privaten „Familienaufstellung“ wurden bald raumfüllende gesellschaftsrelevante Installationen. In Köln-Deutz ging sie in einer Straße von Haus zu Haus und fotografierte wunderschöne alte Industriearchitektur. Die geschnittenen und gefalteten Fotos hängte sie an Nylonfäden und ließ sie zu einem Körper in den Raum wachsen. Bald beschäftigte sie sich auch mit der Theorie der Fotografie und wurde auf die Frage zurückgeworfen: Warum zerlege und ordne ich eigentlich die Fotos neu? Ihre Antwort hat eine ganz persönliche Ebene: „Mich ärgert, dass die Fotos den Anspruch erheben, die Realität widerzuspiegeln. Fotos bilden nur selten das Wer, Was, Wie, Warum ab. Und somit lassen sie sich wie in der Pressefotografie auch zweckentfremden und falsche Tatsachen vorspiegeln.“

Vor allem aber fehlte ihr in den Fotos der Geist des Abgebildeten. Den bringt sie nun in Form von Worten mit hinein. So wie zuvor bei einer Installation über Nietzsche im Dokumentationszentrum Naumburg setzt sie jetzt bei Luther das Messer an. Sie möchte dem Foto eine Substanz geben, die dem Abgebildeten gerecht wird.

Bei Luther gab es indes noch keine Fotos, aber Cranach und seine „Jünger“ wussten beim Malen auch um das Retuschieren der Wahrheit, um das Verbreiten des „Sonntagsgesichts“, das im Buchdruck seine serielle Fortsetzung fand. „Sobald man etwas vervielfältigen kann, beginnt die stille Post. Es ist bekannt, dass Luther nicht einverstanden war, dass er von seinen Fans zum Führer stilisiert wurde. „Die Landesfürsten, die Luther unterstützten, machten ihn auch zum Instrument gegen den Papst. Dadurch war auf einmal eine Opposition da, aber ebenso der 30-jährige Krieg als Konsequenz der politischen Reformation. Positives und Negatives gehen Hand in Hand.“ Angeregt wurde sie in ihrem Luther-Projekt vor allem durch einen FAZ-Artikel, in dem es um das Thema ging: Wer rettet Martin Luther vor seinen Huldigern?

Die Künstlerin will Fragen aufmachen und dazu ermuntern, sich auf die Quellen zu besinnen, Recherchearbeit zu betreiben. Bei ihrem Luther-Raumkörper „Himmel und Erde – Reloaded“ sind es 200 Wörter, die sie an die Wand bringt. Sie entnahm sie der These 20 aus der Lutherschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die er 1520 verfasste. Die Künstlerin griff zur Urversion, zur ersten gedruckten Fassung in seinem heute kaum noch zu verstehenden Rechtschreib-Kauderwelsch, in dem es keine Kommas und kaum Punkte gab, dafür jede Menge Ypsilons. In dieser These geht es darum, dass sich jeder vor seinem Gewissen selbst verantworten muss und von niemanden Absolution erhalten kann. Um diese Botschaft zu entschlüsseln, muss sich der Besucher Zeit nehmen – und vielleicht auch einen Taschenspiegel. Denn die Worte bringt sie in Spiegelschrift an. Susanne Pomrehn mag rätselhafte Stimmungen, in denen das Sentimentale und Banale ebenso wenig ausgespart werden wie das Grausame und Brutale. Fragil, verletzbar, zerstörbar, leicht und still – so „zeichnet“ sie ihre Bilder in alte hinein. Und lädt sie mit Spannung auf, die sich nicht greifen lässt.

„Himmel und Erde – Reloaded. Ein installativer Raumkörper von Susanne Pomrehn“, Eröffnung am 2. Juli um 17 Uhr im Kunstverein KunstHaus Potsdam, zu sehen vom 4. Juli bis 27. August 2017

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