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Kultur: Die lebendige Neugier auf das, was „nicht ich ist“ Kerstin Raatz liest ihre Irland-Erzählungen

Wo kommst Du her? Eine offenbar simple Frage.

Wo kommst Du her? Eine offenbar simple Frage. Doch umso öfter Kerstin Raatz sie beantworten sollte, umso schwieriger erschien sie ihr. Ein Jahr verbrachte sie als Studentin der deutschen und englischen Literatur in Irland: dem Außenposten Europas. Doch wer kannte fern der Heimat ihre Prignitz, wo sie 1980 geboren und aufgewachsen ist? Oder Brandenburg? Auch mit Ostdeutschland wussten mitunter nur diejenigen etwas anzufangen, die noch weiter im Osten wohnten.

Kerstin Raatz spürte ihrer Standort-und Identitätsbestimmung literarisch nach. In ihren Irland-Erzählungen, die sie beim morgen beginnenden 13. Festival der Frauen vorstellen wird, erzählt sie über ihre Begegnung mit einer Estin und einer Amerikanerin. Und mit der alten verrückten Bridie, die im Westen Irlands wohnt, noch immer mit Eisenofen mitten im Haus, in dem der Torf glüht und auf dem der ewige Teepot steht. Doch Bridie stellt, als sie Mitte 50 ist und die Kinder mehr oder weniger erwachsen sind, ihr Leben auf den Kopf, bietet niemanden mehr Tee an, geht aus dem Raum, wenn sie eine Unterhaltung langweilig findet. Und sie beginnt zu malen. Und sich zu erinnern. Von fernher kramt sie auch zwei deutsche Soldaten heraus, die Anfang 1940 auf der Insel überwinterten. „Zwei so nette Männer“, sagt Bridie, schon allein, weil sie als Flieger die Engländer bombardiert hatten. Vom Zweiten Weltkrieg hatte Bridie außer ein paar angespülte Leichen wenig mitbekommen. Sie kannte von Deutschland nicht mehr als die Lieder der Soldaten. Der Osten und der Westen waren für sie nichts weiter als Himmelrichtungen. „Die politische Himmelsrichtung Irlands ist der Norden“, notierte Kerstin Raatz in ihrer Erzählung „Verrückt“.

Sie schrieb ihre autobiografisch gefärbten Geschichten ganz speziell für das Frauenfestival, passend zum Thema „East meets West“, was alles heißen kann: Geografisches, Klimatisches, Politisches. Organisiert wurde es von Kerstin Reetz’ ehemaliger Dozentin an der Universität Potsdam, Elke Liebs, die derzeit die Kulturarbeit von „prima donna“ am Frauenzentrum leitet. Die Professorin hofft, dass durch das kleine Festival mit viel Musik, Lesung, Fotografie und Film die lebendige Neugier auf das, was „nicht ich ist“, wachgehalten wird.

Wie durch die Fotos von Simone Ahrend, die allein nach Asien reiste, als sie von den Unruhen in Burma hörte. Fast jeder riet ihr ab von der Fahrt. Trotzdem buchte die Potsdamerin einen Flug bis Bangkok, besorgte sich dort ein Visum, flog weiter nach Rangoon und erkundete kleine umliegende Dörfer. Ein Jahr später war sie in Katar und Sri Lanka unterwegs. Ihre Fotos zeigen, wie sich Frauen durchboxen, improvisieren, um der Armut zu trotzen: Atmosphärische Tiefeneinblicke in fragile Existenzen. Und so wie sich die freiberufliche Potsdamer Fotografin in der Fremde spiegelte, kam auch Kerstin Raatz über Begegnungen mit „Fremden“ sich selbst näher.

Sie spürte, wie sehr ihr der Wald fehlt und die trockene Wiese, in die sie sich hineinlegen kann und wie der ständige Regen in Limerick sich auch auf ihr Gemüt schlug. Dafür genoss sie das Interesse der Menschen aneinander, auch wenn sie anfangs erschreckte, dass man sie einfach auf der Straße ansprach, und fragte, woher sie denn kommt. Bald genoss sie diese Nähe. Wie im Bus, wo man sich nicht hinter-, sondern nebeneinander setzt. Oder im Pub, wo die Herzen zusammenrückten, wenn gemeinsam Lieder gesungen werden. „Es ist herzzerreißend, wenn plötzlich ein alter ,Knorz’ aufsteht und ein Liebeslied schmettert. Mit Inbrunst und Wahnsinnsstimme. Und natürlich bekommt er am Ende Applaus, wie alle.“ Auch sie erntete Beifall, als sie „Dat du min Leevsten bist“ zum Besten gab, „wenigstens ein Lied, das ich mit vollem Text kannte.“ Später kamen irische Lieder und Gedichte dazu.

Und jetzt ihre Irlandgeschichten. „Vielleicht könnte daraus ein erstes eigenes Buch entstehen“, hofft Kerstin Raatz, die seit ihrer Kindheit schreibt und erst in der Ferne erkannte, dass sie deutscher ist, als sie vermutet hatte und wo man sie plötzlich so ordentlich und sauber fand. „Ich war vorher noch nie im Leben dafür ausgelacht worden, dass ich vor dem letzten Bier darauf hinwies, wann der letzte Bus fuhr.“ „Woher weißt du das?“, wurde sie von ihren Begleitern gefragt. „Ich habe vorhin auf den Plan gekuckt.“ „Wow, you are so German.“ Die Welt spielt eben manchmal „verrückt“, wenn man eine andere Himmelsrichtung einschlägt. Heidi Jäger

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