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Abschlussfeier 1971: Schüleralltag in der DDR in «Die Kinder von Golzow».

© Reiner Podzuweit/rbb/PROGRESS Film-Verleih/dpa

„Die Kinder von Golzow“: Langzeit-Doku über Brandenburg: Unsterblich, mindestens einen Film lang

Wer im Jahr 30 nach der Wiedervereinigung Ostdeutschland verstehen will, sollte die Filme von Winfried Junge sehen. Das Filmmuseum Potsdam und der rbb laden anlässlich seines 85. Geburtstages zum Wiederentdecken ein.

Potsdam - Die Filme von Winfried Junge machen süchtig: So wie das Leben süchtig macht, das sie einzufangen zu suchen. Wer einmal damit begonnen hat, will nie wieder aufhören. Mit dem Leben nicht, und auch nicht mit dem Zuschauen. Wer einmal angefangen hat, die Geschichten von Elke, Wilfried, Jochen, Jürgen, Dieter, Brigitte und all den anderen zu verfolgen, den lassen sie nicht wieder los.

Der Dokumentarfilmer Winfried Junge, Jahrgang 1935, lange Zeit bei der DEFA, wird am 19. Juli 85 Jahre alt. Anlass für das Filmmuseum Potsdam, den Regisseur am Sonntag, dem 5. Juli nach Potsdam einzuladen, um mit ihm einige seiner Filme zu zeigen. Und für den rbb, unglaubliche 24 Stunden aus Junges Filmmaterial in der Mediathek zu streamen. Material gäbe es doppelt so viel: Winfried und seine Co-Regisseurin Barbara Junge begleiteten eine Schulklasse fast ein halbes Jahrhundert lang, von 1961 bis 2005. Durch persönliche Krisen, ökonomische Krisen, eine Zeitenwende. „Die Kinder von Golzow“ gilt als die beharrlichste Langzeitdokumentation aller Zeiten.

Warum aber Golzow? „Warum nicht Golzow!“

Ausgangspunkt dieses Ausnahmeprojekts ist das Dorf Golzow im Oderbruch. Hier filmt Winfried Junge, damals DEFA-Debütant, am 28. August 1961 eine Klasse von Schulanfängern am ersten Schultag. Ausgewählt wurde per Zufall: die Klasse, die im Erdgeschoss von außen gut filmbar war. Ein Experiment. Vom Dokumentarfilm-Studio der DEFA geplant war, das Heranwachsen, wohl auch das Über-sich-Hinaus-Wachsen im Sozialismus zu beobachten – bis ins Jahr 2000. Ein Ziel, das erreicht wurde. Allerdings: Im Jahr 2000 war sonst nichts mehr wie geplant. Die DEFA war 1992 aufgelöst worden. Der sozialistische Staat, in dessen Sinne die Ausbildung der Film-Kinder begonnen worden war, existierte nicht mehr. Junge hatte das Heranwachsen der Deutschen Demokratischen Republik dokumentieren wollen; er filmte ihr Ende.

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Warum aber Golzow? „Warum nicht Golzow!“, beantwortet Junge die Frage in seinem Film „Drehbuch: Die Zeiten“ von 1992. Der viereinhalbstündige Film ist einer von insgesamt 22, die Winfried und Barbara Junge über die Jahrzehnte über Golzow machten. Der erste zeigt Kinder im Sandkasten und mit Schultüten. Eine junge Lehrerin. Einen Jungen, der einer Katze am Fenster hinterher träumt – Inszenierung, wie Junge später berichten wird. 

Arbeiten für "Wenn ich erst zur Schule geh" (1961), den ersten Dokumentarfilm in der Reihe "Kinder von Golzow" von Winfried Junge.
Arbeiten für "Wenn ich erst zur Schule geh" (1961), den ersten Dokumentarfilm in der Reihe "Kinder von Golzow" von Winfried Junge.

© Archiv

Anfangs dozierend, mit den Jahren bewusst, ja radikal subjektiv

Ein Thema, das wiederkehrt: Die Präsenz der Kamera und des Filmteams bildet nicht nur die Realität ab, sie formt sie teilweise auch. Auch die Mittel, die Winfried Junge wählt, tun das. Junges Stimme ist in allen Filmen präsent, er hinterfragt, reflektiert, ergänzt – auch sich selbst. Anfangs noch dozierend, mit den Jahren immer persönlicher und, so wirkt es, bewusst, ja radikal subjektiv. Erwähnt den eigenen, im Krieg gefallenen Vater, wenn es um das Denkmal der Schlacht um die Seelower Höhen geht. Wird ratlos, auch bitter, wenn die Sprache auf den Untergang der DDR, die Vergeblichkeit der sozialistischen Idee kommt. 

Auch die Musik, mit der Junge seine Filme unterlegt – Trompeten, Flöten, Geigen – macht deutlich: Um Objektivität, Distanz geht es hier nicht. Er kommt den Menschen, die er filmt, nah. Scheut sich nicht vor intimen, schmerzlichen Fragen. Manchmal blitzt er ab. 

„Alles fließt. Man kann niemals zweimal im gleichen Fluss baden.“

Auch wenn die Kamera ab und an die Vogelperspektive sucht, den Blick von ganz oben auf das Dorf und seine zauberhafte Landschaft: Winfried Junge steht nicht über den Dingen, nicht über dem Fluss der Zeit, den er abfilmt. Er steht mit den Porträtierten mitten drin – nur dass er derjenige ist, der die Fragen stellt. Was eine Lehrerin früh zu der Golzower Schulklasse sagt, wird – ebenso wie der nahe Grenzfluss, die Oder – zum Leitmotiv für das gesamte Projekt: „Alles fließt. Man kann niemals zweimal im gleichen Fluss baden.“

Der ungewisse Verlauf der Zeit ist ebenso bedrohlich wie verheißungsvoll, auch das zeigen die Filme. Elke, die sich im ersten Film als kleines Mädchen für ihre Tränen schämt, steht viel später selbstbestimmt an der Seite ihres vierten Mannes. Für andere verkehrt sich Glück in Unglück, Zufriedenheit in Wut, Sicherheit in ein Gefühl des freien Falls. Am deutlichsten wird das in den Jahren nach 1990. Dem eben noch stolzen Gemüsebauer entgleiten vor Wut über die niedrigen Kilopreise der Nachwendezeit die Züge. Der gelernte Melker steht plötzlich zwischen zornigen Demonstranten auf dem Alexanderplatz, später wird er Kohlen schleppen. Die, die vor 1989 strahlende Bürgermeisterin war, ist nun arbeitslos. 

Regisseur Winfried Junge, mit seiner Frau und Co-Regisseurin Barbara Junge.
Regisseur Winfried Junge, mit seiner Frau und Co-Regisseurin Barbara Junge.

© Archiv

Wer die ehemalige DDR verstehen will, sollte diese Filme sehen

Wer im Jahr 30 nach der Wiedervereinigung auch nur ansatzweise die Ratlosigkeit, den Zorn verstehen will, die sich in Ostdeutschland 1990 breit machten – und teils nie verschwunden sind –, sollte diese feinfühligen, genauen Filme sehen. Den Stolz auf die Errungenschaften der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft LPG, auf das eigene Haus, das eigene Gemüse. Die Gesichter der Menschen, die ein paar Jahre später neben ihren Kindern auf dem Arbeitsamt sitzen. Die Mutter, gelernte Bauzeichnerin, die plötzlich wieder die Schulbank drückt. Die Erwachsenen, die als Kinder Brechts Lied „Anmut sparet nicht noch Mühe“ in der Schule sangen und in den frühen 1990ern zu Kämpfern geworden sind. Um ihre Arbeit. Um ihre Ehen. Um ihre Würde.

Dass die Junges in ihren späteren Filmen zwischen den Zeiten springen, aus den Kindertagen in das jeweilige Heute des Films und zurück: Das ist teilweise verwirrend. Und doch liegt darin die Kraft dieser Filme. Sie zeigen, wie schmerzlich schnell aus Kindern Jugendliche, aus Jugendlichen Erwachsene, aus Jungen Alte werden – und in den Alten doch auch immer noch die Jungen von einst stecken. Sie zeigen: Der Fluss der Zeit fließt weiter, egal mit wem, egal unter welcher Fahne. Und jede und jeder darin ist es wert, unsterblich zu sein, mindestens einen Film lang.

 „Anmut sparet nicht noch Mühe“, am 5. Juli um 11 Uhr und „Lebensläufe – Die Geschichte der Kinder von Golzow“, am 5. Juli um 15 Uhr im Filmmuseum Potsdam

„Die Kinder von Golzow: Große Retrospektive“. Zehn Filme sind seit 14. Juni ein Jahr lang in der Mediathek des rbb zu sehen.

Lena Schneider

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