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Kultur: Die Frage nach dem Gutsein

„Heimat, bittersüße Heimat“ in der Reithalle

Zwar waren die Geschichten um die Frage nach der Heimat an diesem Samstagabend im „nachtboulevard“ verortet, doch Schauspieler Moses Leo, für einen Moment in der Rolle des Erzählers, wies das Publikum des gut besuchten Saales daraufhin, dass diese zwar hier und jetzt, aber auch an unendlich vielen Orten unendlich oft, überall und nirgends so oder anders passieren könnten.

„LabelNoir“, das sich für das nun folgende zweistündige Programm verantwortlich zeigte, besteht aus sieben afro-deutschen Schauspielern, die mit ihrem fünf Akte unfassenden Stück „Heimat, bittersüße Heimat“ derzeit durch Brandenburg touren. Und das nicht nur wegen des überspitzten, oft zynischen Tons, sondern auch durch eingebaute Videosequenzen, Musik und immer wieder eingeschobenen „Standortbestimmungen“ der Schauspieler für ein herausfordernd anspruchsvolles Abendprogramm sorgte. Sie näherten sich der Frage nach Heimat auf eine unerwartete Weise. Aufgrund der eigenen Lebensumstände – beinahe jeder der Schauspieler ist in Deutschland geboren –, sprachen sie vor allem die Toleranzbekundungen gegenüber anderen Kulturen an, die in Deutschland eine übergroße Bedeutungshaftigkeit zu besitzen scheinen. Diese stoßen der Gruppe augenscheinlich besonders auf, wird die eigene Herkunft schließlich sofort aus der Hautfarbe abgeleitet, und darum bekommt die Frage nach dem „guten Menschen“ eine sehr zentrale Position. Hat Gutsein mit Gerechtigkeit zu tun, mit Vernunft, mit bewusstem Reden oder unbewusstem Tun?

Wie absurd beispielsweise ist die Situation des farbigen jungen Mädchens, das, auf einer Bank sitzend und lesend, plötzlich von einer Frau angesprochen wird, die sie, als sie ein Telefongespräch der jungen Frau mitbekommt, für ihr hervorragend fehlerfreies Deutsch lobt? Warum entwickelt die Hautfarbe sofort ein Klischee? Oder die beiden deutschen Frauen, die sich während eines Gesprächs über ihre Salsa-, Bauchtanz- oder Antifagruppe unterhalten und ihre extreme Offenheit gegenüber allem und jedem betonen. Warum eigentlich besteht der Deutsche immer wieder auf der eigenen Toleranz und Hilfsbereitschaft? Und verliert sie, so wie die beiden Protagonisten in einer der nächsten Szenen, im entscheidenden Moment aus den Augen?

Es gilt, eine Podiumsdiskussion über ethnische Minoritäten in Berlin vorzubereiten. Man betont das eigene Gerechtigkeitsempfinden, denkt über noch mehr Wortbeiträge von Vertretern diverser Randgruppen nach. Doch als plötzlich die Türglocke geht und ein ausländischer Jugendlicher, der Opfer eines rassistischen Übergriffs wurde, verzweifelt um Hilfe bittet, verstecken sich die beiden engagierten Helden plötzlich hinter Paragraphen und Versicherungsfragen, die es ihnen nicht erlauben, jetzt die Tür zu öffnen. Was folgt, ist ein Schattenspiel der Gewalt hinter einem weißen Laken, das zeigt, wie der Jugendliche von zwei Angreifern zu Boden getreten wird.

Das Programm ist voll solcher oft bitterbösen Gedankenfetzen und Szenen und bekommt eine noch viel größere Intensität, als Leander Graf, Moses Leo oder Dela Gakpo selbst an den Bühnenrand treten und ein Stück ihrer Herkunft rekapitulieren. Es geht um Erfahrungen von Übergriffen, um den Verlust der eigenen Muttersprache oder die Suche nach dem Vater, nach den eigenen Wurzeln.

Das ist viel Stoff für einen Abend und nach der Pause sollte auch noch mehr dazukommen, denn die anfangs gestellte Frage nach dem Gutsein warf auch die Liebe in den Ring. Ist Liebe gut? Und so beschäftigte sich das Ensemble schließlich mit Treue, mit Freiraum und mit der Frage nach dem Warum der Liebe, nach Projektion und Wunschbildern, die der Realität entgegenstehen. Andrea Schneider

Andrea Schneider

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