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"37 hours & 3 minutes" von Gunilla Heilborn feierte Deutschlandpremiere bei den Potsdamer Tanztagen 2022.

© Märta Thisner

Deutschlandpremiere bei den Potsdamer Tanztagen: Wie Russland mit dem Westen tanzt

Russland-Analysen? Gibt es derzeit überall. Bei den Tanztagen bot Gunilla Heilborn mit „37 hours und 3 minutes“ eine wohltuende Alternative: Tolstoi-Lektüre in Form von pointierten Wortgefechten.

Potsdam - Aus ihrer Faszination für Russland beziehungsweise die Sowjetunion hat die schwedische Choreografin Gunilla Heilborn nie ein Geheimnis gemacht. Stattdessen verarbeitete sie diese in Performances wie „Fünfjahresplan“ (2011) oder „Gorkij Park 2“ (2015), die auch in der fabrik in der Schiffbauergasse zu sehen waren.

2022 hat Heilborn, wenige Wochen vor dem Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine, „37 hours and 3 minutes“ in Stockholm zur Premiere gebracht, das am vergangenen Wochenende während der Potsdamer Tanztage auch seine Deutschlandpremiere feierte.

Das Verhältnis des Westens zu Russland unterm Brennglas

Und es ist großartig, dass gerade jetzt diese intellektuell vielschichtige und dabei überaus witzige Inszenierung das Licht der Welt erblickte, denn sie untersucht wie unter einem Brennglas das romantisch-oberflächliche Verhältnis des Westens zu Russland.

37 Stunden und drei Minuten - so der Titel der wortgewaltigen Collage - braucht man angeblich, um „Anna Karenina“ von Lew Tolstoi zu lesen, wenn man 250 Wörter pro Minute schafft. Dieser Roman hat in den USA die Buchverkaufszahlen einbrechen lassen, weil ihn Oprah Winfrey in ihrer TV-Show empfahl und halb Amerika daraufhin im Tolstoi-Fieber versank.

Die vier Performer:innen, Marcus Baldemar, Ludvig Daae, Lisen Rosell und Kristiina Viiala, lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass ihn Oprah, die ihn als „sexy Liebesgeschichte“ promotete, nicht wirklich verstanden hat.

Die Zeit und das Leben Tolstois

Stattdessen versuchen sie, sich wie in einem Puzzle in die Zeit und das Leben Tolstois zu versetzen, um das Bild, das wir (der Westen) von ihm haben, ein wenig zurecht zu rücken. Und dass es um erfundene Bilder geht, wird schon in der ersten Sequenz klar, als Anna Kareninas Suizid in einer frühen Schwarz-Weiß- Filmszene, allerdings mit Keira Knightley als Anna, an die fabrik-Wand projiziert wird.

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Auch von Lew Tolstoi, dem neben Dostojewski bekanntesten russischen Schriftsteller, hat der Westen (s)ein ikonenhaftes Bild, vor allem das des sanften Heiligen im folkloristischen Leinenhemd, mit Rauschebart und der Sehnsucht nach dem sogenannten einfachen Leben.

Verästelte, skurrile Wortkaskaden

Wie viel „Tolstoi“ dabei in jedem von uns - oder in den periodisch in gesellschaftlichen Umbrüchen auftretenden lebensreformerischen und ökologischen Bewegungen - steckt, wurde in den pointierten, sich immer wieder verästelnden, oft skurrilen Wortkaskaden der Performer:innen deutlich.

Aber auch etwas, das im aktuellen Kriegsgeschehen nicht außer Acht zu lassen ist, nämlich die Suche Russlands nach einer Identität, die sich bereits seit über hundert Jahren in zwei Alternativen abzubilden scheint: der Orientierung und Annäherung an den Westen oder einem eigenen, russischen Weg, der schon zu Tolstois Lebzeiten (1828-1910) die Intelligenzija in verschiedene Lager spaltete.

Wohltuende Alternative zu Russland-Analysen

Heilborns Inszenierung, die vor allem durch ihre trockene Lakonie immer wieder den Nagel auf den Kopf trifft, ist eine hochintellektuelle, kenntnisreiche und wohltuende Alternative zu den vielen gegenwärtigen ideologisierenden Russland-Analysen. In der Inszenierung, die nach ihrer Stockholm-Premiere in Potsdam erst zum zweiten Mal gezeigt wurde, tanzten als Gäste des Abends auch Serja Vesterinen und Levin Kaufmann von der Potsdamer Company Marita Erxleben mit. 

Die Tanztage finden bis 22. Mai an verschiedenen Orten in der Schiffbauergasse statt. Karten und Infos hier.

Astrid Priebs-Tröger

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