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Kultur: Der Weg in die Dreidimensionalität

Mit Tony Cragg holt die Villa Schöningen einen bedeutenden Bildhauer nach Potsdam – zeigt aber vor allem dessen Zeichnungen

Ein bisschen verrückt ist es schon: Da holt die Villa Schöningen einen der bedeutendsten zeitgenössischen Bildhauer nach Potsdam – und zu sehen sind vor allem Zeichnungen und Grafiken. Ein paar Skulpturen auch, ja. Das Haus mit seinen verwinkelten Zimmern, den nicht alles tragenden Böden ist nicht wirklich der richtige Ort für Plastiken. Das sagte Cragg selbst bei der Eröffnung der Schau.

Was hier bis zum 3. September zu sehen ist, ist also eher der Weg zur Dreidimensionalität. Denn auf dem Papier, sagt Cragg im Gespräch mit den PNN, löst er viele bildhauerische Probleme, bevor er mit der eigentlichen Arbeit beginnt. Sie sind sein Weg, visuell weiter zu denken, hier hat er noch nicht mit dem Widerstand des Materials zu kämpfen. Er kann schnell sein, sein Denken schneller die Richtung wechseln. Gleichzeitig aber können die Zeichnungen nie die Skulptur ersetzen, nicht einmal klären, was Skulptur ist. Das Greifbare bleibt auf dem Papier unberührt.

„Ich bilde ja nichts ab, deshalb ist es immer ein Abenteuer, wenn ich den Bleistift aufs Papier setze“, sagt Cragg. Nie weiß er, wohin die Reise geht. Und selbst, wenn man das weiß – wenn man Punkt A mit Punkt B verbinden will, gibt es unzählige Möglichkeiten das zu tun. Mit der Verknüpfung von Punkten fing es für Cragg auch an: 1949 in Liverpool geboren, studierte er erst am Gloucestershire College of Art and Design, wechselte dann in die Malklasse der Wimbledon School of Art und dann ans Royal College of Art in London und begann irgendwann, Netze aus geknoteten Kordeln über Alltagsgegenstände zu spannen.

Um Vernetzung, die sichtbare und unsichtbare Verbindung von Allem mit Allem, scheint es ihm auch heute noch zu gehen. Was auf seinen dichten, übervollen Zeichnungen zu sehen ist, sind Punkte, verknüpft durch Linien, die im einen Moment Chaos bedeuten können und im nächsten eine Gruppe Männer enthüllen, die im Beisein einer Frau um einen Tisch lümmeln. Sie können utopische Städte aus lauter Türmen zu Babel sein, mit Milliarden von Fenstern aber ohne Menschen, die hinausblicken, oder aber fein gefältelte, hauchdünne Lagen von etwas Organischem. Blütenblätter kurz bevor sie sich entrollen, lamellenartige Membrane.

Und wenn seine Zeichnungen nicht aus dieser Strich-Punkt-Strich-Logik gestrickt sind, nutzt er ein anderes Netz. Binäre Codes, Nullen und Einsen fügen sich da wie frei schwebende DNA zu Ketten und Schlingen zusammen. Der Stoff also, aus dem heute, im Informationszeitalter, längst nicht nur unsere Träume, sondern die Hälfte unserer Leben gemacht sind. Ökonomie, Wissen, Kommunikation, Unterhaltung: Alles funktioniert digital und lässt sich somit in Nullen und Einsen ausdrücken. Der Witz bei Cragg ist, dass er das digitale Material aufs Papier und damit scheinbar auf ein veraltetes Medium zurückholt.

Aber vielleicht hilft ihm das beim Filtern. Filtern ist die Hauptaufgabe in einer Welt, in der Information im Überfluss und vor allem in Sekundenschnelle verfügbar ist. Für einen Künstler wie Cragg umso mehr. Denn wie die meisten Künstler hasst er die Frage nach der Inspiration. „Ich lebe“, sagt er. Das sei mehr als genug. „Inspiration ist eher das, was übrig bleibt, wenn man alles gefiltert hat.“ Wir alle sehen und erleben eine materielle Realität. „Künstler aber wissen, dass das, was wir wahrnehmen, ein Produkt ist aus dieser materiellen Realität und aus der Art und Weise, wie wir sehen.“ Und dieses Sehen, findet Cragg, ist sehr restriktiv. Überhaupt unsere ganze Art zu leben. Wir haben Regeln dafür, wie wir Dinge sehen, deuten, dafür was sie uns bedeuten und was überhaupt etwas bedeutet. Dabei sind die Möglichkeiten dafür in Wahrheit endlos. Alles könnte immer auch ganz anders sein. Das Schöne kann Schrecken sein und das Schmutzige wertvoll. „Künstler brechen diese Restriktionen, mit denen wir leben, ein bisschen auf“, so sagt es Cragg.

Nicht, indem ihre Werke selbst etwas bedeuten. Sondern eben dadurch, dass sie nichts bedeuten müssen, können sie unseren Geist öffnen. Sie verändern uns, indem sie in der Welt sind. Craggs sich in den Raum hinein verschiebenden Skulpturen sehen manchmal so aus wie tanzende Wirbelsäulen oder in Form gegossene, saubere Klänge. In dieser Hinsicht schlägt die Bildhauerei die Malerei, denkt man für einen Moment, und bedauert kurz, dass in Potsdam nicht mehr Raum dafür war. Nicht mehr Platz, um das Restriktive, das Denken in Formen und Regeln aufzubrechen. Ungedachtes zu denken.

Schön aber, dass Craggs Arbeiten hier sind, scheinbar zweckloser als die Werke anderer Riesen-Künstler, die hier schon gezeigt wurden. Markus Lüpertz und Georg Baselitz etwa. Beide Schauen hat Cragg, der übrigens seit 1977 in Wuppertal seinen Wohnsitz hat, hier gesehen. So kam wohl auch der Kontakt zustande.

Anders als bei Baselitz und Lüpertz, deren Arbeiten hier an der Glienicker Brücke in diesem von Matthias Döpfner gestifteten Haus jeweils in ein politisches Konzept und damit in ein Korsett gegossen wurden, dürfen Craggs Arbeiten einfach sein. Sich in den Raum und ins Gehirn strecken und neue Zusammenhänge schaffen. Eine solche Offenheit tut Potsdam dann doch sehr gut. Ariane Lemme

Tony Cragg: „Zeichnungen und

Skulpturen“, bis zum 3. September in der Villa Schöningen, Berliner Straße 86

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