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Büste des Autors Peter Huchel im Garten des Peter-Huchel-Hauses in Wilhelmshorst. Lutz Seiler leitet es seit 1997.

© Kitty Kleist-Heinrich, TSP

Lutz Seiler über Peter Huchel: „Der Stoff von Weltliteratur ist die Provinz“

20 Jahre Peter-Huchel-Haus: Anlass für ein Gespräch mit Lutz Seiler über den Dichter, der Mark und Welt in sich vereinte.

Herr Seiler, als wir uns das letzte Mal trafen, sagten Sie: Hier in Wilhelmshorst hängen Peter-Huchel-Gedichte in jedem Baum. Was heißt das genau?

Das hier ist die Landschaft, auf die Huchels Dichtung gründet, hier fand er den poetischen Rohstoff für seine Verse. In der Landschaft der Mark sah er die Motive für seine Dichtung, aus ihr beziehen sie ihre Substanz. Auch die Gestalten dieser Landschaft sind in seine Gedichte eingegangen. Man könnte sagen, dies ist der Ort, der seine Gedichte hervorgebracht hat, der Ort, durch den er gegangen ist, auf den er schaute beim Schreiben. Bis zum Schluss ist das so geblieben, auch nachdem Huchel die DDR verlassen hatte. Die süddeutsche Ecke um Freiburg spielte für sein Schreiben kaum eine Rolle. Es gibt ein poetisches Notizbuch von ihm, in dem stand bis an sein Lebensende: „Im Falle des Verlusts zu senden an “ – und dann kommt die Adresse seines Hauses in Wilhelmshorst, des heutigen Peter-Huchel-Hauses. Bis an sein Lebensende ist das die Heimatadresse seiner Verse geblieben.

Wilhelmshorst blieb sein Bezugspunkt.

Ja, und die Landschaft kommt ganz konkret vor. Man findet den Mittelgraben zwischen Langerwisch und Wilhelmshorst oder den Caputher Heuweg. Die Gedichte sind konkret in dieser Landschaft verankert.

Wie zeigt sich das sprachlich?

Huchel wurde geprägt von dieser Landschaft, schon als Kind. Vielleicht spielt das auch für seine Sprache eine Rolle. Er hat gehört und aufgenommen, wie die Menschen hier sprechen. Er ist aufgewachsen auf dem Bauerngut seines Großvaters in Langerwisch. Dort hat er auch seine ersten literarischen Begegnungen gehabt, sein Großvater war literaturbegeistert, hat Gedichte rezitiert und hatte Bücher im Gewehrschrank. Bis ins Alter blieb diese Gegend für Huchel eine Sehnsuchtslandschaft.

Als Sie nach Wilhelmshorst gezogen sind, wussten Sie nichts von Huchels Haus hier. War er für Sie dennoch schon eine wichtige Lektüre, bevor Sie hier heimisch wurden?

Schon als ich anfing zu schreiben, habe ich Huchel gelesen. Das war mehr Zufall. Während der Armeezeit hatte ich angefangen, Gedichte zu schreiben. Wir waren spezialisiert auf den Bau von Attrappen, aus dem Sand geschaufelte Panzer, Scheinbrücken, Dinge dieser Art. Es gab in meiner Einheit einen Kulturoffizier, der mitbekommen hatte, dass es einen Soldaten gab, der sich für Literatur interessierte, woraufhin ich aller 14 Tage Ausgang bekam, um an den Treffen eines Zirkels schreibender Arbeiter teilzunehmen. Der Zirkel tagte in der Gewerkschaftsbibliothek „Walter Ulbricht“ der Leuna Werke.

Diese Bibliothek sortierte regelmäßig Bücher aus, darunter war auch Peter Huchel, sein erster Gedichtband von 1948, eigentlich damals schon eine bibliophile Kostbarkeit. Das wusste nur niemand, ich auch nicht. Diesen Gedichtband hatte ich dabei, als wir ins Feldlager fuhren. Im Feldlager begann ich, Peter Huchel zu lesen, während wir eine Scheinbrücke bauten, über die Saale. Eine Brücke, die im Cockpit der Nato-Tornados wie eine echte Panzerpontonbrücke aussehen sollte, unsere kostbarste Attrappe. Huchel war eines der stärksten Leseerlebnisse in dieser frühen Zeit, andere kamen hinzu. Über Huchel selbst und wo er gelebt hatte, wusste ich damals noch nichts. In der Nachwendezeit, als ich nach Wilhelmshorst zog, änderte sich das, dann schloss sich der Kreis.

Welche Verse aus ihrer frühen Huchel-Lektüre haben sich besonders eingeprägt?

„Der Holunder öffnet die Monde, alles geht ins Schweigen über “ Das ist aus dem Band „Die neunte Stunde“. Es gibt ein paar Huchel-Verse, die ich in „Kruso“ versteckt habe. „Über den Jägern jagt der größere Hund“ zum Beispiel, ein sehr frühes Gedicht. „Wenn ich mit den Beuteträgern / ziehe durch den dunklen Grund, / droben über allen Jägern / jagt wie Wind der größre Hund.“ Es gibt noch einige andere Lieblingsgedichte von Huchel für mich. „Havelnacht“ zum Beispiel oder „Sibylle des Sommers“.

Holunder, Monde, Hunde – zeigt sich darin, in der Fähigkeit, über Natur- oder Tierbilder etwas Größeres zu beschreiben, etwas für Huchels Dichtung Typisches?

Nein, er steht damit ja in einer bestimmten Tradition, die es in der Dichtung gibt. Im Westen gehörte Günter Eich dazu. Die beiden kannten sich aus der Vorkriegszeit gut und waren befreundet. Beide haben als junge Dichter zum Beispiel Wilhelm Lehmann verehrt. Diese Dichtung, die die Bilder der Landschaft benutzt, hat eine lange Tradition. Später änderte sich das bei Huchel, seine Gedichte werden formal freier und politischer.

Woran macht sich das Politische fest?

Das hatte ganz bestimmt mit seiner eigenen Situation zu tun. Er hatte in der DDR ja immer öfter politische Schwierigkeiten, weil er versuchte mit der Zeitschrift „Sinn und Form“, deren Chefredakteur er war, eine weltoffene gute Literatur zu publizieren, Essays von Ernst Bloch oder Hans Mayer, die zu den Beiträgern zählten. Das war der Akademie der Künste, die die Zeitschrift herausgab, ein Dorn im Auge. Vor allem das gesamtdeutsche Konzept der Zeitschrift wollte man nach 1961 nicht mehr. Man nahm ihm die Zeitschrift weg, drängte ihn zum Rücktritt. Von da an war Huchel vollkommen isoliert, durfte nicht reisen, seine Post wurde abgefangen, er wurde bespitzelt. In dieser Zeit der Isolation sind großartige Gedichte entstanden.

Wenn nicht die Landschaftsmotive – was ist für Sie das Besondere, Huchel-Typische an seinen Gedichten?

Die Schönheit des Klangs, der Sprache. Man muss Huchel lesen, denke ich. Er hat mit dem Klang gearbeitet, er hat die Verse vor sich hin geraunt. Er sagte das auch selbst einmal: „Ich raune so lange vor mich hin, bis ich hören kann, dass es stimmt“. Huchel wusste, wie sein Vers klingen muss, dafür hatte er ein perfektes Gehör.

Und „das Märkische“ in der Dichtung, gibt es das eigentlich?

Nein, jedenfalls nicht bei Huchel, nicht in diesem engeren Sinne. Christoph Meckel, der Huchel kannte, hat zu Recht immer wieder betont: Huchel ist ein Weltdichter. Nur weil er die Landschaft, aus der er kommt, ins Gedicht hebt, ist er kein provinzieller Dichter. Weltliteratur wird ja eigentlich immer aus den Provinzen heraus geschrieben. Der Stoff dieser Welt ist die Provinz, das kann man auch über Huchel sagen.

Peter Huchel arbeitete mit Worten wie mit Bausteinen, rückte sie so lange in seinen Notizen hin und her, bis es stimmte.

Wer selbst schreibt, den wundert das nicht so sehr. Die langwierige Arbeit, das Montieren, das Hineinlauschen ins Wort, in einen Vers, das endlose Überarbeiten, das gehört zum Schreiben. Und es gibt keinen Bauplan, man hört, wann es stimmt, wann man da ist, wo man hinwollte, ohne dass man vorher gewusst hat, dass es genau das war, was man wollte. Davon erzählt auch das poetische Notizbuch von Peter Huchel.

Könnte man sagen, dass das Märkische Teil seines Themenbaukastens ist?

Man könnte sagen, dass diese Landschaft in seinen Gedichten zu Wort kommt. Dass in den frühen Gedichten immer wieder das „Schilf“ auftaucht, weil er die Havellandschaft vor Augen hatte. Mit dem Schilf kommt das „i“ ins Spiel, reine Sprache. Die Landschaft ist eine Art Quellgrund für diese Gedichte. Oder „Kindheit in Alt-Langerwisch“. Langerwisch auf den ersten Blick kein besonders poetisches Wort, aber Huchel schafft es, das Wort einzubetten in die Musik seines Gedichts, gibt ihm Poesie, die weit über den konkreten Ort hinausgeht.

So wie Sie Huchels Arbeitsweise beschreiben, scheint Sie der Ihren sehr ähnlich.

Vielleicht stimmt das. Das ist tatsächlich etwas, indem ich mich Huchel sehr nah fühle: die Arbeit vom Ohr her, nah am Klang. Dafür ist Huchel eine Art Gewährsmann.

Warum muss man bei Huchel immer noch betonen, dass er zu den Großen gehört?

Huchel gehört zur Weltliteratur und war immer auch für andere Dichter ein wichtiger Bezugspunkt. Wie Kanonisierungen in der Literarturgeschichte ablaufen, weiß ich nicht. Die Frage, warum Huchel nicht so viel Beachtung gefunden hat wie Bertold Brecht oder Thomas Mann, stellt sich auch nicht, wenn es wirklich um Literatur geht, das heißt um das Besondere, die Eigenart vieler verschiedener Stimmen. Und eigentlich würde ich gern auch ein wenig widersprechen. Wenn wir, wie neuerdings, aus Anlass unseres 20-jährigen Jubiläums, wieder vermehrt Veranstaltungen zu Huchel selbst machen, mit Thomas Rosenlöcher oder Michael Krüger, dann stößt das auf großes Interesse. Die Leute wollen von Huchel hören. Es gibt eine Sehnsucht, sich mit dieser Dichtung zu verorten, und sei es in einer Seelenlandschaft. Und Huchel ist eine Integrationsfigur – in Ost und in West.

Das Gespräch führte Lena Schneider

Am Sonntag um 14 Uhr feiert das Peter-Huchel–Haus in Wilhelmshorst, Hubertusweg 41, in Anwesenheit der Nobelpreisträgerin Herta Müller sein 20jähriges Bestehen. Der Eintritt ist frei

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