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Der neuer Leiter von Lit:Potsdam: Thomas Böhm bei einer Veranstaltung im Filmmuseum Potsdam 2021.

© Manfred Thomas

Der neue Leiter von Lit:Potsdam im Interview: „Ich bin Literaturempfehler“

Thomas Böhm ist der neue Leiter des Festivals Lit:Potsdam. Wie er es in seiner 10. Jubiläumsausgabe noch mehr öffnen will – und warum er weniger politische Debatten sucht.

Herr Böhm, auf Wikipedia steht: Thomas Böhm ist Autor, Literaturvermittler und Moderator. Stimmt die Reihenfolge?
Ich sehe mich selbst kaum als Autor. Ich sehe mich vor allem als Literaturvermittler. Ich komme aus einer Bergarbeiterfamilie im Ruhrgebiet. Bei uns zuhause gab es keine Bücher und ich habe den Weg in die Welt über das Lesen gefunden. Diese Freude, diese Bereicherung, die ich selbst erlebt habe, möchte ich weitergeben. 

Sie moderieren bei RadioEins die „Literaturagenten“. Als Kritiker sehen Sie sich nicht?
Da stellen wir Bücher im Plauderton vor, ganz offen. Es gibt keine Verrisse bei uns. Ich weise Menschen lieber auf gute, lesenswerte Bücher hin – insofern bin ich vielmehr „Literaturempfehler“.

Können Sie sich an Ihr eigenes Erweckungserlebnis in der Literatur erinnern?
Das war im Alter von 13 Jahren. Mein Vater hatte einen Groschenroman mitgebracht: „Lupina – die Königin der Werwölfe“. Er hatte mir verboten, da dranzugehen. Kaum war er weg, nahm ich das Heft, hab das verschlungen und auf Seite 64 stand plötzlich: Ende des ersten Teils. Daraufhin habe ich mich auf die Suche begeben. 

Sie haben das Literaturhaus Köln geleitet, das Programm des Literaturfestivals Berlin. Was ist Ihr Ansatz für Potsdam?
Es war mir an allen Orten immer wichtig, eine Verbindung zwischen Autorinnen und Autoren, der Lebenswelt des Publikums vor Ort und der „Weltliteratur“ herzustellen. Das heißt, wir haben sehr viele Autorinnen und Autoren, die in Potsdam oder Umgebung leben und Potsdam oder Brandenburg als Gegenstand oder Schauplatz ihrer Bücher wählen – und die relevante Beiträge geleistet haben zu unserem Festivalthema. Das lautet: „Was uns verbindet.“ Wobei Literatur natürlich anders auf aktuelle Themen antwortet. Ein Beispiel: Als das Programm fertig war, brach der Ukraine-Krieg aus. Wie setzt man sich damit in einem Literaturprogramm auseinander? Die Antwort ist: Wir stellen den klassischen Schlüsselroman der ukrainischen Literatur vor, „Die Stadt“ von Walerjan Pidmohylnyj.

Als Autor:innen mit Lokalbezug haben Sie Julia Schoch, Torsten Schultz, André Kubiczek und Antje Rávik Strubel eingeladen. Gibt es aus Ihrer Sicht etwas, was „Potsdamer Literatur“ ausmacht?
Da täte ich mich jetzt sehr schwer, etwas zu benennen. Autorinnen und Autoren denken ja auch nicht so – sie schreiben einfach Erfahrungen, über die sie etwas zu erzählen haben, oder Themen, zu denen sie Stellung nehmen wollen. Im Werk von Antje Rávik Strubel zum Beispiel kommt ja Potsdam auch kaum vor. Was aber wichtig ist: Es ist toll für eine Stadt, dass es problemlos möglich ist, so viele national bedeutende Autorinnen und Autoren ins Programm zu holen. Das ist Ausdruck davon, dass Potsdam auf jeden Fall eine Literaturstadt ist.

Internationales und Lokales verbinden, das hat auch Festivalgründerin Karin Graf versucht – was wollen Sie anders machen?
Es war nicht der Ansatzpunkt meines Denkens, irgendetwas anders zu machen. Dazu bestand keine Notwendigkeit. Es ist ein großartig eingeführtes, sehr geschätztes Festival. Ich habe von dem Festivalmotto „Was uns verbindet“ aus gedacht. Dass dann in der Ausgestaltung manche Dinge anders sind als in vorherigen Festivals, das liegt in der Logik des Programms.

Gerade das Motto ist aber eine Änderung. Davor gab es nur den allgemeinen Slogan "Starke Worte, schöne Orte.".
Das ist tatsächlich so, jetzt sind die Veranstaltungen aus dem Motto erdacht. Bei manchen Veranstaltungen liegt der Bezug klar auf der Hand, bei manchen liegt es in der Verbindung von Lokalem zu Internationalem. Am Sonntag zum Beispiel machen wir einen Rundgang über den Telegrafenberg mit Markus Rex, da thematisieren wir, wie zentral die Welt der Forschung mit Potsdam verbunden ist.

Täuscht der Eindruck, dass Sie mit dem Programm auch mehr in die Breite gehen? Ganz an den Anfang stellen Sie den Geschichtenjahrmarkt – und es gibt weniger konfrontative Debatten.
Das ist absolut richtig beobachtet. Ich möchte, dass ganz unterschiedliche Menschen auf das Programm schauen können. Das fängt schon an mit dem Poster Kat Menschik. Man guckt da drauf und jeder sieht etwas anderes. So sollen auch in Potsdam unterschiedliche Menschen sich im Programm wiederfinden. Vom Krimi-Abend über Computerspiele bis zu klassischen Literaturabenden wie denen von Antje Rávik Strubel. Wir umgehen die brisanten Themen der Gegenwart nicht – aber wir gehen sie literarischer an, weniger in Debattenform, das stimmt. 

Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir den Abend mit Ute Frevert im Museum Barberini. Da geht es um die Frage, wie mit Gefühlen Politik gemacht wird. Ute Frevert stellt ihr Buch vor, und im Anschluss spricht der Kurator der Ausstellung zur abstrakten Kunst über die Schau im Museum Barberini. Wir bleiben also bei der Kunst und gehen nicht in die politische Debatte rein. Auch beim Abend mit Volker Kutscher bleiben wir beim Roman, aber nehmen uns die Figur Charlotte Ritter heraus. Sie ist diejenige, die als erste begreift, was eine Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeuten würde. Weil ihre Rechte als Frau massiv beschnitten werden. Wir beschäftigen uns also mit Machtmechanismen – aber in Form einer Hommage an Charlotte Ritter.

Am Eröffnungsabend geht es auch um Machtmechanismen: Zu Gast ist Tsitsi Dangarembga, die in Simbabwe in einen Schauprozess verwickelt ist. 
Wir sind sehr, sehr glücklich, dass Tsitsi Dangarembga kommen kann. Sie war die erste, die wir eingeladen haben. Das Festivalmotto ist nicht zuletzt von der Rede inspiriert, die sie bei der Verleihung des Friedenspreises gehalten hat. Darin erläuterte sie, dass wir so etwas wie eine weltweite Solidarität brauchen. Hierzulande ist sie ja noch nicht so bekannt wie in der englischsprachigen Welt – ihr Buch „Aufbrechen“ wurde von der BBC zu einem der 100 Bücher, die die Welt verändert haben, gewählt. Als wir erfuhren, dass es zu dem Prozess gegen sie kommt, waren wir entsetzt. Ihr droht eine mehrjährige Haftstrafe. Aus der Ferne können wir nichts machen, aber die Veranstaltung wird ein großes Zeichen der Solidarität sein. 

Wie gehen Sie damit um, dass Tsitsi Dangarembga wegen des laufenden Prozesses sehr unter Druck steht?
Es geht nur um ihr Werk. Wir stellen ihre tollen Romane vor, die sind bewegend und erzählerisch grandios. Die Politik in Simbabwe müsste unheimlich stolz darauf sein, wie diese Künstlerin eine Weltöffentlichkeit erreicht und sich mit den Mitteln der Kunst für eine Verbesserung der Gesellschaft einsetzt. Und wir stellen sie als diese herausragende Künstlerin vor. Es geht in der Trilogie darum, „was es bedeutet, eine doppelte Bürde zu tragen“, wie es einmal heißt – Schwarz zu sein und eine Frau zu sein. Das öffnet einem die Augen über die Zustände in Simbabwe. Und indem man über einzelne Schicksale spricht, spricht man auch über Politik. 

Zum Schluss noch drei große Fragen an Sie als Vielleser – Antworten gern in einem Satz. Was ist ein gutes Buch?
Eine Möglichkeit, etwas über die Welt zu erfahren und etwas zu verstehen, was ich vorher nicht wusste.

Gibt es schlechte Bücher?
Unbedingt. Das sind die Bücher, die versuchen, mir eine Weltsicht aufzudrängen.

Zuletzt: Warum lesen Sie?
Weil das mein Leben ungemein bereichert. Weil es mir das Gefühl gibt, viele Leben zu führen.

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Thomas Böhm, geboren 1968 in Oberhausen, war elf Jahre lang Programmleiter des Literaturhauses Köln und gestaltete von 2011 bis 2014 das Programm des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Er kuratierte die Gastlandauftritte Islands und Norwegens bei der Frankfurter Buchmesse sowie der Schweiz bei der Leipziger Buchmesse. Zudem ist er Autor mehrerer Bücher und Hörbücher und moderiert bei RadioEins das Magazin „Die Literaturagenten“. Beim Festival Lit:Potsdam war er schon häufig als Moderator zu Gast, mit der 10. Jubiläumsausgabe (26. Juni bis 3. Juli) übernahm er die Leitung. Programm und Karten gibt es unter www.litpotsdam.de.

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