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Ein Höhepunkt. Zu den vielen erlebenswerten musikalischen Aufführungen gehörte 2016 die Winteroper „Israel in Egypt“ in der Regie von Verena Stoiber in der Friedenskirche, hier mit der Sopranistin Marie Smolka. Konrad Junghänel dirigierte die Kammerakademie Potsdam.

© HL Böhme

Kultur: Der Blick zurück

Schauen wir auf die Stücke, Filme, Konzerte, Ausstellungen und Bücher: Was war überragend in Potsdam? Was verzichtbar? Was überraschend? Sieben persönliche Antworten

HANS OTTO THEATER

Höhepunkte des Jahres: Den einen, absoluten Höhepunkt gab es 2016 am Hans Otto Theater nicht – außer dem erfreulichen Willen, den Spielplan insgesamt thematisch am Zeitgeschehen zu orientieren. „Illegale Helfer“, „Geächtet“, „Terror“: Alles Stücke, die die Figur des Fremden, die Angst davor, den Platz für Flüchtlinge in der Gesellschaft hinterfragten. Auch Formate wie „Refugees Club“ und „Stadt der Zukunft“ gehören dazu. In den Inszenierungen selbst lagen die Höhepunkte, wie oft, im Detail. Drei Beispiele: Wie Alexander Finkenwirt als „Peer Gynt“ seine Mutter Ase (Rita Feldmeier) erzählend in den Tod begleitet. Wie Marianna Linden als Mascha in den „Drei Schwestern“ vor der Unmöglichkeit ihrer Liebe verglüht. Wie René Schwittay schüchtern-beglückend und erschütternd komisch in „Ein Sommernachtstraum“ eine Wand spielt. Auf Plateauschuhen.

Tiefpunkte des Jahres: Inszenatorischer Tiefpunkt war ein Stück, das im Vorhinein viel Staub aufgewirbelt hatte und inhaltlich durchaus am Platz war: „Illegale Helfer“ von Maxi Obexer in der Regie von Yvonne Groneberg. Die Frage (wie weit darf Hilfe gehen?) war wichtig, und dass die AfD das Stück absetzen wollte, ein erhellendes, alarmierendes Signal. Die Inszenierung aber wusste viel zu genau, was sie moralisch vermitteln wollte, um interessant zu sein. Als Nachhilfe in Sachen Flüchtlingshilfe gut; als Theaterstück nicht. Weitere Tiefpunkte waren der Weggang zweier großartiger Ensemblemitglieder, die so leicht nicht ersetzt werden können: Alexander Finkenwirth und Holger Bülow.

Entdeckungen des Jahres: Es gibt zwei. Die erste kommt, wie auch die Nichtverlängerung des Vertrages von Intendant Tobias Wellemeyer zeigt, viel zu spät: Das Hans Otto Theater kann sehr wohl einen inhaltlich dichten, thematisch gegenwartsnahen Spielplan stemmen. Es kann (siehe Refugees Club) zum Dialog zwischen verschiedenen Bevölkerungsteilen beitragen. Damit hatte das Haus zu lange hinterm Berg gehalten. Die zweite Entdeckung heißt Nina Gummich. Zwar kam die Schauspielerin bereits 2015 zum Ensemble, aber 2016 war ihr Jahr. Wer sie in „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ gesehen hat, weiß: sie kann zart und unscheinbar, wild und unbändig – und vor allem, eine Seltenheit, ungemein und ungehemmt komisch sein. Lena Schneider

LITERATUR

Höhepunkt des Jahres: Zweifelsohne Christoph Ransmayrs „Cox oder der Lauf der Zeit“. Das Buch ist allein sprachlich eine Offenbarung. Wie kein anderer Autor versteht es der Österreicher, wortgewaltig und präzise schöne und fremde Welten entstehen zu lassen. In seinem neuen Werk ist es das China Mitte des 18.Jahrhunderts, wohin ein englischer Uhrmacher reist, um für den Kaiser die Zeit in der Ewigkeit aufzuheben. Das ganze Buch ist ein einziges fein justiertes und perfekt ausgeklügeltes Räderwerk.

Tiefpunkt des Jahres: Viel gewagt, aber kaum gewonnen: In dem Roman „Die Unglückseligen“ versucht Thea Dorn moderne Naturwissenschaft, Geistesgeschichte und die Welt der Dämonen zusammen zu bringen. Die Neurobiologin  Johanna Mawet trifft auf den unsterblichen Philosophen und Frühromantiker Johann Wilhelm Ritter. Eine Tour de force führt den Leser von DNA-Ketten über Faustschen Spuk hin zu Fantasy, Comic und allerlei Sprachgewirr. Sehr kluge Autorin, aber dieser Roman ist definitiv überfrachtet, nicht zuletzt an Selbstgefälligkeit.

Entdeckung des Jahres: Paula Fürstenberg ist ein interessantes Debüt gelungen. In „Familie der geflügelten Tiger“ beschreibt die 1987 geborene Potsdamerin die Suche einer jungen Frau nach ihrer eigenen Geschichte. Die Hauptfigur Johanna versucht die Wahrheit über ihren erst abwesenden, dann sterbenden Vater herauszufinden. Kurz vor der Wende ist er in den Westen abgehauen. Als Erwachsene versucht Johanna, sein Leben zu rekonstruieren. Bevor sie an seine Stasi-Akten herankommen könnte, erfindet sie sie. Erfrischend ist Paula Fürstenbergs spielerischer und zugleich ehrlicher Umgang mit der DDR-Vergangenheit. GritWeirauch

KLASSIK

Höhepunkte des Jahres: Die Festivals gehören zu den Höhepunkten eines Konzertjahres: Die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci gaben 2016 mit ihrem Ausflug nach Frankreich ein spannendes musikalisches Porträt des Landes. Der Internationale Orgelsommer in der Friedens- und Erlöserkirche lud herausragende Organisten aus aller Herren Ländern, ein, die sich in diesem Jahr vor allem dem Werk Max Regers widmeten. Die Vocalise ist wichtiger Bestandteil des Musiklebens der Stadt. Das Schöne an dem Fest ist, dass auch Amateurchöre Potsdams das Sagen haben. Das semi-professionelle Orchester Collegium musicum wird von Jahr zu Jahr immer besser. Mit großem Engagement und Erfolg hat es sich dem Mammut-Opernprojekt „Hänsel und Gretel“ im Dezember in der Biosphäre zugewandt. Chapeau.

Tiefpunkt des Jahres: Von Tiefpunkten im musikalischen Leben kann 2016 nicht die Rede sein. Hier und da stand manch unzulängliche Tonübertragung der Hörqualität bei Open-Air-Konzerten oder in Hallen im Wege.

Entdeckung des Jahres: Dass die Kammerakademie Potsdam ein Orchester ist, das innerhalb der europäischen Musikszene eine wichtige Rolle spielt, wird deutlich, wenn man ihre Konzerte erlebt. Die Sinfoniekonzerte werden immer abwechslungsreicher. So warteten die Musikerinnen und Musiker im Herbst mit einem Melodram von Georg Benda auf, mit „Medea“. Das Kennenlernen dieses Ausnahmewerks war ein anregender Höhepunkt in diesem Jahr, aber auch die musikalische Interpretation der diesjährigen Winteropern-Produktion in der Friedenskirche mit Händels „Israel in Ägypten“. Ein Name sollte noch genannt werden: Johannes Lang. Der neue Kantor der Friedenskirche wirkt seit zweieinhalb Monaten in Potsdam. Die Aufführung des „Weihnachtsoratoriums“ und des „Magnificat“ von Bach am Mittwoch gab bereits davon Kunde, dass die Kirchenmusik in Potsdam mit ihm um einen kompetenten Interpreten reicher geworden ist. Klaus Büstrin

POPULÄRE MUSIK

Höhepunkte des Jahres: Den Höhepunkt des Jahres lieferte keine Band – sondern ein Festival. „Krumm&Schief“ hieß das Jazzfest, das an einem Wochenende Ende Oktober im Freiland stattfand. Ein Experiment, das keine musikalischen Stilbrüche scheute: Und vielleicht auch deshalb im ersten Anlauf so erfolgreich war. Die Idee kam aus dem Potsdamer Musikerkollektiv „Brausehaus“, das mit jazziger Leichtigkeit an der Neuerfindung der Musik arbeitet. Da wird Jazz munter mit Postrock, Mathrock und Electro durchgemendelt. Und dann entstehen so herzzerreißend intensive Bands wie etwa Minerva mit ihrem saxophondurchtränkten Krautrock: Die Potsdamer machten sich zu den bescheidenen Königen des Festivals. Aber auch die Spanier Jardín de la Croix mit ihrem verfrickelten, elegischen Sound haben sich eingeprägt. „Krumm&Schief“ wird wegweisend sein, es wird ausstrahlen, wachsen. Gut, dass das Festival auch 2017 in Potsdam stattfindet.

Tiefpunkte des Jahres: Der Reinfall des Jahres sollte eigentlich der Höhepunkt sein: Die unsterblichen Soulfly im Waschhaus, die personifizierte Geschichte des Metal schlechthin. Viel Vorschusslorbeeren für Frontmann Max Cavalera, der 2016 auch seine Autobiografie herausbrachte. In Scharen pilgerten langhaarige Kuttenträger im August in die Arena, mitten in der Open-Air-Saison. Und kamen ernüchtert wieder heraus. Der Kommerz vergällte diesen Abend, der ursprünglich als kleines Clubkonzert konzipiert war und erst kurz vor knapp in die Arena verlegt wurde, damit das Management der Band die völlig überschätzten Newcomer Monument noch unterbringen konnte. Das wusste nur keiner: deshalb war die Arena nicht mal adäquat gefüllt. Als dann noch ein sichtlich lustloser Cavalera ein brandenburgisches Provinzkonzert runterrattern musste, war die Luft raus. Potsdam ist eben nicht Wacken.

Entdeckungen des Jahres: In Potsdam gibt es gerade eine Renaissance der Singer-Songwriter: Mit „warp neun“ bringt Hannes Kreuziger ein Album heraus, das vor Pathos und Lyrik glüht, das perfekte Konglomerat aus Schwermut und Hoffnung. Und sammelt mittlerweile schon per Crowdfunding für den Nachfolger. Ruben Wittchow wird für den „Deutschen Rock&Pop-Preis“ in der Kategorie Singer-Songwriter nominiert, streicht ihn zwar nicht ein, schwimmt aber auf der seligen Treue der Fans seiner Heimatstadt. Und wie aus dem Nichts taucht Caro Jordanow auf: reißt mit ihrer zauberhaften Stimme und der jazzigen Wohlfühlmusik den Sieg im Potsdamer Bandcontest an sich, spielt auf dem Stadtwerkefest vor Tausenden Leuten – und lässt den ganzen Jubel an ihrer Aura der Bescheidenheit abperlen. Zumindest um die Potsdamer Musikszene braucht man sich keine Sorgen zu machen. Oliver Dietrich

FREIE SZENE

Höhepunkte des Jahres: Die Festivals in der Schiffbauergasse sind immer Höhepunkte. Die Tanztage und Unidram begeisterten auch 2016. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die Akteure des Theaters Stap aus Belgien – Menschen mit sogenannten intellektuellen Beeinträchtigungen. Der überwältigendste Moment ihrer Inszenierung „To Belong“ wurde durch ein wildes Schlagzeugsolo eingeleitet. Frauen und Männer entkleiden sich und stehen in Unterwäsche vor dem Publikum. Sie zeigen sich – und wir sehen uns: In ihrer/unserer Kraft und Schönheit, aber auch in aller Unvollkommenheit, die das Leben für uns alle bereithält.

Tiefpunkte des Jahres: Für mich gab es mehrere Inszenierungen, die in die Kategorie „ärgerlich“ passen: „Pocket Symphonies“ der Oxymoron Dance Companie, eine Aufführung des Kanaltheaters Eberswalde und „Schreibtischherrschaft“ von Uniater. Bei „Pocket Symphonies“ – einer Verschmelzung aus Tanz, Artistik und Livemusik – drängte sich die schmachtende Streichermusik total in den Vordergrund und ließ für die in schwarzen Kostümen vor eben solchem Hintergrund Tanzenden so gut wie keinen Raum! Das Kanaltheater, ein Community-Theaterprojekt, konnte in Potsdam mit seiner vordergründig agitprophaften Spielweise nicht wirklich landen und „Schreibtischherrschaft“ wirkte überambitioniert und wie am Reißbrett entworfen. Es setzte außer Ärger über die klischeehafte Darstellung von Menschen mit Behinderungen kaum andere Emotionen frei.

Entdeckungen des Jahres: Theater kann so einfach und dabei so reich sein wie „Sómente“ vom portugiesischen Straßentheater SÓ. Dieses war eine wirkliche Entdeckung bei der diesjährigen „Stadt für eine Nacht“. Was Sérgio Fernandes, der Regisseur und Schauspieler, dort in nur 25 Minuten poetisch über das Leben und Sterben – auf Stelzen laufend und einer überdimensionierten Bank sitzend – zeigte, hat mich ungemein berührt. Astrid Priebs-Tröger

BILDENDE KUNST

Höhepunkt des Jahres: Die zerborstene Arche im Kunstraum von Chris Hinze. Formal und inhaltlich eine überragende Metapher für Träume von Flucht und Hoffnung. Ein Beispiel für Kunst, die vielleicht nicht Berge, aber immerhin Baumstämme versetzt. Träume sollten fliegen und nicht in zerborstenen Booten ertrinken. Ebenso schön: die Zwillingswoge von Mikos Meininger. Das Lob auf uraltes unendlich aktuelles Thema: Liebe und Verlangen.

Tiefpunkt des Jahres: Die weiterhin ungesicherte Zukunft von engagierten Initiativen wie dem Rechenzentrum und dem neuen Atelier Panzerhalle und die vergleichsweise schwache Ausstattung der bildenden Kunst im städtischen Haushalt, die sich auch in der Museumspädagogik niederschlägt.

Entdeckung des Jahres: Die Stimmigkeit des Dialogs zwischen Ost und West in der Ausstellung „Die wilden Achtziger“ im Potsdam Museum aus einer Zeit, in der die Institution noch in einem anderen Land stand. Die Künstler kannten sich nicht, aber über die Mauer hinweg korrespondierten sie und zeigten, dass sich Kunst nicht instrumentalisieren lässt. Der Dialog sollte fortgeführt und aufgenommen werden. Die Zeit sollte reif sein für eine vorurteilslose Betrachtung der Kunst des untergegangenen Regimes mit Künstlern, die auch nach der Wiedervereinigung weiter in Ost und West ein stimmiges Werk geschaffen haben. Richard Rabensaat

FILM

Höhepunkte des Jahres: Gleich zwei Filme, die vom Aus- und Einbruch in neue Leben erzählen, haben in diesem Jahr besonders beeindruckt: Zum einen der Spielfilm „Wild“ von Nicolette Krebitz, der von einer jungen Frau (großartig: Lilith Stangenberg) erzählt, die eine Beziehung zu einem Wolf aufbaut und durch ihn ihre wilde Seite entdeckt. Krebitz zeichnet ihren Film minimalistisch und trotzdem so ergreifend einnehmend, dass seine Wucht noch lange nachhallt. Die Dokumentation „Transit Havanna“ von Daniel Abmas setzt hingegen auf die Individualität seiner drei transsexuellen Protagonisten, die in der kubanischen Hauptstadt auf ihre Geschlechtsumwandlung warten. Abmas – Absolvent der Babelsberger Filmuni – ist dabei sehr nahe an dem einzelnen Menschen, lässt ihnen aber genug Raum, um zu Wort zu kommen. Unvergesslich sind auch die Gespräche zwischen Publikum und den Regisseuren im Thalia Kino beziehungsweise im Filmmuseum. Zwei intelligente Filmabende.

Tiefpunkt des Jahres: Dass solche Abende nicht selbstverständlich sind, zeigte dieses Jahr Regisseur Sebastian Peterson mit „Meier Müller Schmidt“, den er im Thalia präsentierte. Ein Film rund um eine Kreuzberger Studenten-WG driftet in eine Inzestgeschichte ab, die nicht von den Charakteren ausdiskutiert, sondern als normale Paargeschichte hingenommen wird. Als Erklärung gab Peterson nur seinen Druck, viele Geschichten erzählen zu wollen, an. Enttäuschend und unbefriedigend.

Entdeckung des Jahres: Es ist ein Kampf, ein Rausch, eine elektrisierende Berührung: „Der Nachtmahr“ von Regisseur Akiz ist ein Film, den die deutsche Filmindustrie bitter nötig hatte und zeigt, dass mutige Experimente aufgehen können. Über zehn Jahre hat Akiz, der zuletzt das Leben von Hippie-Model Uschi Obermaier verfilmte, an dem Film gearbeitet, die Figur des E.T.-artigen Nachtmahrs selbst entworfen. Herausgekommen ist eine intelligente Darstellung vom Leben eines Teenagermädchens, die Spielraum für eigene Interpretationen zulässt. Albtbacken ist hier trotz Mythenbezüge nichts: Die Story um Tina (grandios: Carolyn Genzkow), die sich einer seltsamen Kreatur stellen muss, kommt als wilde Technofahrt daher. Genial. Sarah Kugler

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