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Depressive Kunstfigur: Der traurigste Comedian der Welt

Zu Gast bei einem Demotivationsworkshop mit Nico Semsrott.

Potsdam - „Für jeden Lacher, der mir rausrutscht, zahle ich einen Fünfer für einen guten Zweck“, sagte Nico Semsrott am Donnerstagabend im Lindenpark – und kündigte an, das Geld der Jungen Union zukommen zu lassen, ein bisschen Selbstbestrafung muss einfach sein. Dass am Ende des Abends die Taschen leer waren, weil ihm das einfach zu oft passierte – sei’s drum. An seine Spendenabsicht glaubte ohnehin niemand.

Semsrott, das ist auf der Bühne die depressive Kunstfigur, die sich selbst als den traurigsten Comedian der Welt beschreibt – einfach indem sie depressiven Episoden einen gewissen Unterhaltungswert andichtet. Also steht er mit Brille und bis über die Augen gezogener Kapuze auf der Bühne, ausgestattet mit sämtlichen Attributen der Unsicherheit, eine perfekte Inszenierung als Trauerkloß. Die falsche Fährte ist jedoch grandios gelegt: von wegen Witze auf Kosten Depressiver. Was Semsrott bringt, ist gnadenloses politisches Kabarett, hinter den mit brüchiger Stimme vorgetragenen Erkenntnissen verbergen sich wuchtige philosophische Erkenntnisse und eine knallharte Abrechnung mit dem gesellschaftlichen Jetzt.

Verzweiflung an der Drogenpolitik

Die er dann unter dem Titel „Demotivationsworkshop“ als PowerPoint-Präsentation vorträgt: „Vielleicht muss die Demokratie auch die Abschaffung der Demokratie ertragen müssen“, grübelt er. Oder seziert das Münchner Attentat, als einer mit Migrationshintergrund andere mit Migrationshintergrund erschoss: „Da hat selbst die AfD gesagt: Zu kompliziert, wir sind raus.“ Oder er verzweifelt an der Drogenpolitik, die in Deutschland ja von Alkoholikern gemacht werde. Keine großen Gesten, keine Schenkelklopfer: Semsrotts Duktus ist das entschuldigende Heben der Hände. Er hat nur laut gedacht – wie einer eben, der sein ganzes Leben grübelnd im Bett verbringt.

Politisches Kabarett scheint derzeit unter Comedians eine Renaissance zu erleben, die Zeiten krachiger Pointensalven zu Geschlechterrollen scheinen vorbei – das Lachen ist bitterer geworden. Ob die politische Infiltration des Humors ein gutes Zeichen ist oder nicht, das sei dahingestellt. Man könnte natürlich mit einem Blick in die Geschichte sagen: Das politische Kabarett blüht gerade in Zeiten, in denen es in der Politik schlecht riecht.

Am gestrigen Freitag trat Nico Semsrott übrigens in der Stadthalle Chemnitz auf, im kleinen Saal. Im großen Saal nebenan spielte derweil die Nordböhmische Philharmonie Hits der Böhsen Onkelz – kein Witz, „mehr Sachsen geht nicht“, hatte Semsrott am Vorabend kommentiert. Vielleicht sind es wirklich harte Zeiten. Oliver Dietrich

Oliver Dietrich

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