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Erinnern als Pflichtübung? In der DDR war Antifaschismus Staatsdoktrin, keine gelebte Realität, sagt Marianne Birthler.

© picture-alliance / dpa/dpaweb

Debatte über Einnerungskultur in der DDR: Antifaschismus als politischer Mythos

In der DDR gab es eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Holocaust, schrieb Buchpreisträger Eugen Ruge in den PNN. Die langjährige Bundesbeauftragte für Stasiunterlagen Marianne Birthler widerspricht ihm hier: Der Zulauf zu Pegida und AfD in Ostdeutschland ist eine Spätfolge der kommunistischen Diktatur.

Wer den Zulauf zu Pegida, rechte Gewalt oder die besorgniserregenden Erfolge der AfD im Osten nicht nur mit den Brüchen und Enttäuschungen der Nachwendezeit erklärt, sondern auch mit den Nachwirkungen der kommunistischen Diktatur, macht sich selten beliebt. Besonders empfindliche Reaktionen bekommt zu spüren, wer den antifaschistischen Mythos der DDR kritisch beleuchtet. Offenbar habe ich diesen wunden Punkt auch bei Eugen Ruge getroffen, als wir beide kürzlich, moderiert von Gert Scobel, im Hans Otto Theater Potsdam diskutierten.

Es verwundert immer wieder, dass Menschen es nicht wahrhaben wollen: Die Diktatur und das Leben hinter der Mauer wurden eben nicht nur für diejenigen zum Verhängnis, die ums Leben kamen oder politisch verfolgt wurden. Wir waren Untertanen der SED, wurden bevormundet, überwacht und, wenn wir nicht gehorchten, bestraft. Eigensinn, Individualität und die Sehnsucht nach Freiheit galten als verdächtig und wurden systematisch abtrainiert. Im Osten Deutschlands leben bis heute Millionen Menschen, die die meisten Jahre ihres Lebens hinter realen und ideologischen Mauern verbracht haben. Kaum jemand im Osten Deutschlands wünscht sich heute, wieder in der DDR zu leben. Aber die Sehnsucht nach Sicherheit und die Angst vor Freiheit und Verantwortung sind immer noch spürbar.

In BRD entwickelte die Zivilgesellschaft eine Erinnerungskultur

Natürlich gibt es solche Sehnsüchte und Ängste auch im Westen. Die Deutschen haben eine lange gemeinsame Geschichte vormundschaftlicher Tradition und autoritärer Strukturen, sie teilen die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und das Wissen um nationalsozialistische Verbrechen. Doch schon in der Frage, wie in beiden deutschen Staaten mit der NS-Zeit umgegangen wurde, gingen beide völlig verschiedene Wege: Im Westen dauerte es mehr als eine Generation, bis Holocaust, Kriegsverbrechen und die Verfolgung und Ermordung von Widerstandskämpfern zum öffentlich anerkannten Thema wurden. Bis dahin hatten die Opfer der NS-Zeit einen schweren Stand, während viele Täter und Mitläufer des NS-Systems ihre beruflichen Karrieren nahtlos fortsetzen konnten. Dann aber entwickelte sich, vor allem aus der Zivilgesellschaft heraus, eine breitgefächerte Erinnerungskultur, in deren Folge die Verbrechen beim Namen genannt und der Widerstand gewürdigt wurden.

Marianne Birthler.
Marianne Birthler.

© Britta Pedersen/dpa

Die DDR hingegen verstand sich seit ihrer Gründung als antifaschistischer Staat. Die früheren Konzentrationslager wurden zu Gedenk- und Pilgerstätten. Als Kinder legten wir Blumen an den Wohnhäusern nieder, an denen Gedenktafeln an Widerstandskämpfer erinnerten, die von den Nazis ermordet worden waren. Freilich handelte es sich bei ihnen nahezu ausnahmslos um Kommunisten. Sozialdemokratischer, bürgerlicher oder christlicher Widerstand spielte kaum eine Rolle. Auch von den Millionen ermordeter Juden war zumindest in den 1950er und 1960er Jahren, als ich zur Schule ging, kaum die Rede.

In der DDR kam der Völkermord an Juden bis in die 1970er nicht vor

Auf Letzteres reagierte Eugen Ruge mit der höhnischen Frage, welche Schule ich denn besucht hätte. Mit anderen Worten: Meine Behauptung, Schülerinnen und Schüler meines Jahrgangs hätten vom Völkermord an den Juden in der Schule so gut wie nichts erfahren, könne nur pure Verleumdung sein. Hier irrt Herr Ruge.

Der Völkermord an den Juden kam bis in die 1970er Jahre hinein in den Schulbüchern nicht vor. Das änderte sich in den 80er Jahren. Nun war von der Verfolgung von Juden zwar durchaus die Rede – so gibt es im Geschichtsbuch der 9. Klasse je einen kurzen Abschnitt zur „Kristallnacht“, zu den Nürnberger Rassegesetzen und zum Aufstand im Warschauer Ghetto. Das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte jedoch – der millionenfache, industrielle Mord an den europäischen Juden – wird nicht thematisiert, denn Juden waren allenfalls eine Opfergruppe unter vielen: „Ein besonders schweres Los hatten die Kommunisten, Antifaschisten und aus rassischen Gründen Verfolgten, vor allem Juden ... Über acht Millionen Menschen der verschiedenen Nationen und Klassen, in erster Linie Arbeiter, Kommunisten, Sowjetbürger, progressive Angehörige der Intelligenz und Juden, wurden in den Konzentrationslagern grausam ermordet.“ Im dazugehörigen Lehrplan für die 9. Klasse fehlt das Thema Shoa völlig.

Nicht alle Künstler beugten sich dem SED-Diktum 

Grund für diese selektive Sicht auf die nationalsozialistischen Verbrechen war vor allem die bis 1989 geltende, von Georgi Dimitroff stammende Definition: „Der Faschismus an der Macht ... ist die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“ Dass sich nicht alle Künstler dem SED-Diktum vom „Klassencharakter des Faschismus“ beugten, dass es Friedrich Wolfs „Professor Mamlock“ gab und Jurek Beckers „Jakob der Lügner“, steht dazu nicht im Widerspruch, denn natürlich sind die staatlich festgelegten schulischen Lehrinhalte von viel größerer Wirkung als diese Bücher, die vom größeren Teil der Bevölkerung nicht zur Kenntnis genommen wurden.

In den 1980er Jahren führte Erich Honeckers Wunsch, als Krönung seines Bemühens um internationale Anerkennung der DDR in die USA eingeladen zu werden, zu erstaunlichen Veränderungen: Die Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße sollte wieder aufgebaut werden, und die Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag 1988 der Pogromnacht wurden aufwendig begangen. Doch da führten die Juden in der DDR schon ein „schattenhaftes Dasein“, wie es Chaim Noll, Sohn des Schriftstellers Dieter Noll und aufgewachsen in der DDR, beschreibt: „Inmitten ständiger Beteuerungen vom Antifaschismus, vom Neubeginn, von der ‚Überwindung der Vergangenheit’ wurde ein weiteres Mal eine jüdische Bevölkerung in Deutschland dezimiert. Nicht, indem man die einzelnen Exemplare umbrachte, wie es die Nazis getan hatten, sondern indem man die Gemeinschaft als solche am Fortleben hinderte, jeden Nachwuchs unterdrückte, sie aussterben ließ ...“

Antifaschismus in der DDR war eine mächtige Waffe im Klassenkampf

Der Antifaschismus der DDR wurde von Beginn an zum politischen Mythos und zu einer mächtigen Waffe im Klassenkampf. Wer in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR gegen die neu errichtete Diktatur rebellierte, verschwand im Lager – zumeist unter dem Vorwand, dass es sich um Faschisten handelte. Tausende starben. Und der blutig niedergeschlagene demokratische Volksaufstand vom Juni 1953 sei – so die SED – faschistisch gesteuert gewesen sein.

Die Nazi-Täter – so lernte ich es in der Schule – lebten nicht unter uns, sondern allesamt unbehelligt im Westen. Die Ostdeutschen waren die Guten, Hitler war Westdeutscher. Niemals zahlte die DDR auch nur eine Mark an Israel und die Mauer wurde – logisch! – antifaschistischer Schutzwall genannt. Wie sollte unter diesen Umständen eine ehrliche Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung erfolgen? Es gliche einem Wunder, wenn diese fatale Verdrängung ohne Folgen geblieben wäre. Wir wissen inzwischen, dass die Zahl rassistischer und antisemitischer Übergriffe in der DDR hoch war. Die Gewalt gegen Migranten, die Hakenkreuze, die Ablehnung demokratischer Institutionen und der Hass auf ihre Repräsentanten: Wir müssen endlich anerkennen, dass all das – nicht nur, aber auch – aus unserer jüngeren Geschichte herrührt. Ob diese Anerkennung den zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen Rechtsextremismus und Gewalt stärkt? Wir wissen es nicht. Aber die Augen davor zu verschließen, ist ganz bestimmt der falsche Weg.

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Am 15. November erschien in den PNN eine Besprechung der Veranstaltung „Scobel fragt“, in der Marianne Birthler und der Autor & Schriftsteller Eugen Ruge zum Thema „Ost & West – Kommt die Zukunft von allein?“ diskutierten. Eugen Ruge führte die Debatte am 22. November mit einem Text in den PNN fort. Marianne Birthler antwortet ihm mit dem vorliegenden Beitrag.

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Marianne Birthler, Jahrgang 1948, war 2000 bis 2011 Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Seit September 2018 leitet sie interimistisch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.

Marianne Birthler

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