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Das Märchen vom Proleten als Herrscher: Schillernd anarchisch: „Der gestiefelte Kater“ am HOT

„Ein Kater bin ich, und auch nicht“, schnurrt David Kramer als Titelheld der Grimm-Adaption „Der gestiefelte Kater“, die am Mittwoch im Hans Otto Theater Premiere feierte. Da hat er schon frenetischen Applaus kassiert, noch bevor das Stück richtig losging: Kinder sind ein dankbares Publikum.

„Ein Kater bin ich, und auch nicht“, schnurrt David Kramer als Titelheld der Grimm-Adaption „Der gestiefelte Kater“, die am Mittwoch im Hans Otto Theater Premiere feierte. Da hat er schon frenetischen Applaus kassiert, noch bevor das Stück richtig losging: Kinder sind ein dankbares Publikum. Aber auch anspruchsvoll: Überfordern darf man sie nicht, langweilen erst recht nicht. Ein Balanceakt – den die Inszenierung von Kerstin Kusch so spielend meisterte, dass das auch Erwachsene begeistern wird.

Denn die Geschichte über den armen Müllersohn Hans (Gregor Knop), der nach Vaters Tod nichts weiter als einen gewieften, sprechenden Kater sein Eigen nennt, während seinen Brüdern die Mühle und der Esel vermacht wird, ist zu einem popkulturellen Spektakel verwandelt worden. Eine herrlich comichafte Überstrapazierung des Märchens, das mit schrill-opulenten Kostümen und reichlich schräger Musik (Jan Kersjes) überzeugt. Ein Musical eigentlich: Dieser Gute-Laune-Schwank, zu dem die Schauspieler gleich selbst die Instrumente (Trompete, Saxophon, Flöte, Schlagzeug und Klavier) übernehmen, strotzt vor musikalischen Querverweisen – auf Jazz, Neue Deutsche Welle oder Heintje.

Grundtenor ist die Misere der omnipräsenten Langeweile, die förmlich nach Herausforderungen schreit. Diese herrscht zum einen am Königshof. Dort hat der König (Julian Mehne) nämlich bis auf seinen Diener Gustav (Jan Kersjes) sämtliche Lakaien entlassen, der Arme ist nun Koch, Jäger und Hofnarr in einer Person – und kippt permanent um. Unterdessen sitzt der bräsige König diktierend auf der Drehbühne (Iris Kraft), während die Prinzessin (hinreißend: Juliane Götz) den ganzen Tag vom eigenen Nichtstun drangsaliert wird: „Ich träumte, ich wäre eine Bäuerin“, sagt sie einmal. „Dann könnte ich abends müde ins Bett fallen.“ Eskapismus als Schlüssel zum goldenen Käfig.

Herrlich aber auch die schillernde Schizophrenie, mit der die Beziehung zwischen Hans und dem sprechenden Kater auf die Bühne gebracht wird. Überhaupt spart Autor Thomas Freyer nicht an psychosomatischen Verweisen: Während Hans in depressiver Antriebslosigkeit versackt, bildet der Kater mit manischen, hyperaktiven Schüben das andere Extrem. Wir kennen die Geschichte ja: Mit Schläue und Frechheit wird der Kater in seinen Stiefeln schließlich seinem armen Herren zu Wohlstand, Schloss und Königstochter verhelfen. Ein Sieg des ersten Spin-Doctors der Literaturgeschichte.

Währenddessen prescht das Stück mit anarchischem Esprit und zahlreichen Verweisen auf die Gegenwart einfach nur nach vorn. Allein der Auftritt des bösen Zauberers (Jan Kersjes), der sich in eine für Kater essbare Maus verwandeln wird, kommt als pophistorische Referenz an die 80er-Jahre daher, surreal über der Bühne schwebend mit Plastikjacke und Sonnenbrille. Aber die Geschichte hat auch eine soziale Funktion, eine zeitlose: „Ein Graf, der seine Menschen kennt und weiß, wie hart die Arbeit ist“, preist der Kater seinen Herrn. Ein Proletarier als potenzieller Herrscher, noch lange vor der Industrialisierung. „Zugabe! Zugabe!“, schreien die Kinder am Ende. Recht haben sie. Oliver Dietrich

Oliver Dietrich

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