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Kultur: „Da war die Seele weggeflogen ...“

Annett Gröschner mit „Über die Ostbahn“ beim „nachtboulevard“ im HOT

Wanderungen durch Brandenburg können mehr als 100 Jahre nach Fontane, der ebenfalls Droschken und Fähren benutzte, durchaus auch Zugfahrten sein. Die Berliner Autorin Annett Gröschner ist seit den 90er Jahren oft ins Oderland gereist. Für die zweite Folge der „Neuen Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, die das Hans Otto Theater in der Reihe „nachtboulevard“ regelmäßig präsentiert, diente ihre 2008 entstandene Reportage „Über die Ostbahn“ als Grundlage. Gemeinsam mit den Schauspielern Elzemarieke de Vos und Bernd Geiling bestritt die Schriftstellerin am Donnerstagabend in der Reithalle in der Schiffbauergasse eine multimediale Lesecollage über die traditionsreiche Teilstrecke zwischen Berlin und Kostrzyn (Küstrin).

Königlich preußische Ostbahn ist der frühere Name der ältesten preußischen Staatsbahn. Die insgesamt rund 750 km lange Ostbahn erschloss die preußischen Gebiete östlich Berlins mit den Städten Danzig, Königsberg, Bromberg, Thorn sowie mit den an der russischen Grenze gelegenen Städten Eydtkuhnen und Alexandrowo. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Strecke erheblich verlängert und die Bahn entwickelte sich zu einer der wichtigsten Eisenbahnmagistralen Europas und einer der Hauptachsen des Ost-West-Verkehrs. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat sie erheblich an Bedeutung verloren und seit 1989 reisen vor allem polnische Putzfrauen, fliegende Händler und ältere Ehepaare in den Regionalzügen von Berlin-Lichtenberg nach Küstrin, die siebenmal pro Stunde verkehren.

Elzemarieke de Vos und Bernd Geiling gaben eben solchen Reisenden unaufgeregt Gesicht und Stimme und nicht nur an Gestus und Habitus wurde klar, dass hier vor allem Globalisierungsverlierer unterwegs sind. „Arm, völlig unsexy und bisweilen auch intolerant“ ist Berlin bereits wenige Kilometer vom weltläufigen Zentrum entfernt. Sehr pointiert skizziert der Text Gröschners neben Orten wie dem Bahnhof Lichtenberg oder Schloss Neuhardenberg immer wieder die Schicksale von Menschen beidseits der eingleisigen nicht elektrifizierten Bahnstrecke und nicht erst in der Geschichte der 55-jährigen Rosi Z. kam exemplarisch die Sinnentleertheit und Hoffnungslosigkeit vieler Lebensläufe zum Ausdruck. „Da war die Seele weggeflogen“, sagt Rosi Z. doppeldeutig, als ihr an Alkoholismus zugrunde gegangener Mann endgültig das Haus verlässt. Aber auch Künstler, Jugendliche und Pendler kehren dem Oderland scharenweise den Rücken, sodass es scheint, dass das „Werk Friedrichs des Zweiten in den nächsten zwei Generationen wieder rückgängig gemacht würde“.

Mit viel Bitternis und viel Melancholie, aber glücklicherweise auch einiger Ironie gelang es der Autorin die Geschichte und Geschichten von mehr als 100 Jahren Ostbahn respektive Oderland in gerade einmal 45 Minuten zu erzählen. Das war atmosphärisch dicht, sprach alle Sinne an und verknüpft überzeugend kleine alltägliche Geschichten mit dem großen Weltgeschehen. Allerdings wünschte man sich nach dieser wenig romantischen Winterreise, bei der einzig die verschneite Natur entlang der Oder und die eingespielte polnische Musik immer wieder bezauberte, den baldigen Beginn eines neuen Frühlings. Und da Annett Gröschner aus ostdeutscher Perspektive vor allem die Verluste beschreibt, auch andere Stimmen – vielleicht die von Menschen, die aus dem Osten aufbrechen – damit diese zumindest ihre Sehnsüchte und Visionen in die „Neuen Wanderungen“ einbringen können. Astrid Priebs-Tröger

Astrid Priebs-Tröger

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