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Kultur: Courage und eine große Portion Glück Ruth Winkelmann las aus „Plötzlich hieß ich Sara“

Mit energischen Schritten betritt Ruth Winkelmann den Raum. Die kleine Frau mit den freundlich blitzenden Augen liest an der Universität Potsdam aus ihrem Buch „Plötzlich hieß ich Sara“.

Mit energischen Schritten betritt Ruth Winkelmann den Raum. Die kleine Frau mit den freundlich blitzenden Augen liest an der Universität Potsdam aus ihrem Buch „Plötzlich hieß ich Sara“. Öffentlich von ihrer Kindheit im Berlin der NS-Zeit zu erzählen, ohne dabei zu weinen, gelingt ihr erst seit Kurzem. Die 84-Jährige stammt aus einer jüdischen Familie, die fast vollständig von den Nationalsozialisten ausgelöscht wurde. Jahrelang verdrängte sie die Vergangenheit, um weiterleben zu können.

Erst seit etwa zehn Jahren ist sie in der Lage, von dem Erlebten zu berichten und spricht als Zeitzeugin vor Schulklassen. Im Heimatmuseum Reinickendorf lernt sie die Leiterin der Erinnerungswerkstatt, Claudia Johanna Bauer, kennen. Gemeinsam erarbeiten sie das Buch, das im Frühjahr 2011 erscheint und die Vergangenheit aus Kindersicht schildert. Ein Jahr später besucht sie mit ihrem Mann das Konzentrationslager Auschwitz, in dem ihr geliebter Vater getötet wurde, und hält dort für ihn eine Gedenkfeier ab. „Vier Wochen lang habe ich danach nachts kaum geschlafen, dann ging es mir besser“, erzählt sie.

Winkelmanns Vater, Hermann Jacks, war Jude, ihre Mutter Elly konvertierte vor der Hochzeit zum Judentum. Aus dieser „Mischehe“ gingen Ruth und ihre neun Jahre jüngere Schwester Ernestine, genannt „Eddi“, hervor. Sie wuchsen in einem sehr liberalen jüdischen Elternhaus auf. „Wir feierten den Sabbath, aßen aber nicht koscher. Wenn an einem jüdischen Feiertag Arbeit anfiel, ging mein Vater hin“, erinnert sie sich.

Die Eltern schulten Ruth 1935 in die jüdische Volksschule für Mädchen im Berliner Scheunenviertel ein. Unter ihresgleichen sei das Mädchen sicherer, dachten sie. Das Sicherheitsgefühl der kleinen Ruth wurde erst in der Reichspogromnacht im November 1938 erschüttert. SA-Trupps belagerten die Schule, aber die Mädchen konnten sich über die angrenzenden Häuser in Sicherheit bringen.

Ruth war in der sechsten Klasse, als ihre Schule geschlossen wurde. Fortan war jüdischen Kindern der Schulbesuch verboten. Als sie sich nach Kriegsende wieder zur Schule anmelden wollte, hieß es, dafür sei sie mit 16 Jahren zu alt. „Das war für mich die größte Diskriminierung nach der Befreiung“, sagt sie heute.

Um Frau und Kinder zu schützen, erwog der „Volljude“ Hermann Jacks die eheliche Trennung. Die Reichssicherheitsbehörde kam ihm zuvor und vollzog die Scheidung. „Mein Vater war plötzlich Freiwild“, sagt Winkelmann. Die Töchter warteten vergeblich auf den „Arisierungsbescheid“ und waren deshalb ebenfalls in Gefahr.

Mutter und Töchter versteckten sich während der letzten Kriegsjahre in einer Berliner Schrebergartenkolonie. Ein Bekannter der Mutter, der zwar NSDAP-Mitglied, aber auch überzeugter Christ und heimlicher Verehrer von Elly Jacks war, hatte ihnen den Unterschlupf angeboten. Im Winter wurde es in der Laube der Kolonie „Einigkeit“ in Wittenau oft so kalt, dass sich Mutter und Töchter manchmal in ihre eigentliche Wohnung in der Pappelallee schlichen. Ihre jüngere unterernährte Schwester überstand das nicht und starb im März 1945 an Typhus.

Ruth leistete tagsüber Zwangsarbeit in einer Uniformfabrik in der Frankfurter Allee. Erst auf der S-Bahn-Fahrt dorthin heftete sie sich regelmäßig den gelben Stern an die Kleidung. „Nach dem Krieg habe ich ihn in tausend Stücke geschnitten, so wütend war ich.“ Deutschland zu verlassen habe für sie jedoch nie zur Debatte gestanden: „Ich verlasse mein Berlin nicht. Hier will ich meinen letzten Atemzug nehmen.“

Aus der Fabrik wurde niemand zur Deportation abgeholt. „Anscheinend hielt der Chef dort die Hand drüber.“ Der letzten Deportationswelle entging sie, indem sie mit halbrohen Kartoffeln eine Blinddarm-OP herbeiführte. Für sie war das jüdische Krankenhaus die Rettung, andere Patienten waren selbst dort nicht sicher. „Vieles war Willkür“, sagt Ruth Winkelmann. Und: „Zum Überleben brauchte man Courage und eine sehr große Portion Glück.“ Maren Herbst

Ruth Winkelmann: „Plötzlich hieß ich Sara. Erinnerungen einer jüdischen Berlinerin 1933-1945“. Aufgeschrieben und zusammengestellt von Claudia Johanna Bauer, Jaron Verlag, März 2011

Maren Herbst

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