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Kultur: „Columbine war der Ausgangspunkt“

Ines Geipel über die Komplexität von Amokläufen: Heute Buchpremiere in Potsdam

Frau Geipel, „Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens“ ist der Titel Ihres neuen Buches. Wenn Sie von einer Schule des Tötens sprechen, heißt das, dass da ein System der Weitergabe von Wissen und Können greift, sogenannte Amokläufe heute also nach vorgegebenen Mustern ablaufen?

Diese jungen Schützen lernen effizient und direkt voneinander. Sie wissen um jedes Detail des anderen. Dabei ist der Amoklauf an der Columbine High School in Littleton im Jahr 99 das Urmodell. Es gibt ein Ranking im Internet im Hinblick auf solche Todesläufe. Es gibt ein Video, dass man sich runterladen kann. Mit ihm kann man Amokläufe trainieren. Es gibt eine feste Community, alles Jungs, die stark mit der Maschine, also mit dem Computer sind. Sie haben alle einen hohen IQ. Aber ihr EQ, ihre emotionalen Fähigkeiten, sind eher mau.

Was hat der Amoklauf von Eric Harris und Dylan Klebold an der Columbine High School am 20. April 1999, bei dem 12 Schüler und ein Lehrer getötet wurden, zu dieser Ausnahmestellung verholfen, dass man heute von einer Art Urmodell für Folgetaten wie in Erfurt, Emsdetten und Winnenden sprechen kann?

Columbine war der Ausgangspunkt für das globale Handlungsmodell Amok, befördert durch den Einbruch der Neuen Medien. Es war das erste Mal, dass es ein Video der Täter gab, aufgenommen von einer Überwachungskamera in der Schule. Es zeigt, wie die beiden in das Schul-Café stürmen, wie sie töten. Man sieht ihr Outfit und wie sie vorgehen. Viele spätere Täter haben an, was Harris und Klebold anhatten. Sie sind fasziniert von ihren Missionsideen und ihrer Sprache. Amokläufer sind hochkreativ, was Destruktion angeht.

Wenn von Medialisierung die Rede ist, geht es nicht nur um die Beschleunigung und Vervielfältigung von Nachrichten im Internet, sondern auch um die Rolle der Presse, die in der Berichterstattung über solche Ereignisse nicht immer eine rühmliche Rolle spielt. Ist Ihr Buch auch als Kritik an der Berichterstattung zu lesen?

Mein Buch ist zunächst nichts anderes als der Versuch einer Analyse, diese Schule des Tötens ein Stück weit freizulegen und anzuschauen, die Dynamik darin zu verstehen. Die Amokschützen nutzen die Neuen Medien sehr gezielt für ihr Echo, die beabsichtigte Rezeption ihres Grauens. Ich verstehe mich nicht als Moraltante. Die Vielfalt der Medien ist eine Realität. Aber Katastrophenjournalismus ist keine Lösung. Mein Eindruck ist, dass die öffentlich Rechtlichen versuchen, sich mittlerweile auf ein Credo in Sachen Trauma hin zu disziplinieren.

Warum diese Betonung auf eine „Schule des Tötens“?

Wir wissen genug über das Profiling, über den Typus des Täters, lesen aber diese menschengemachten Katastrophen immer noch Tat für Tat. Mein Buch kann zeigen, dass sich das Handlungsmodell der jungen Schützen nach einem Topsystem radikalisiert. Es geht ihnen um das Maximum an Resonanz, weil ihr Leben davor die maximale Resonanzlosigkeit war. Sie wurden schwer gemobbt und sind tief Verletzte. Das entschuldigt keinen Mord, aber es entlässt uns auch nicht aus diesem Konflikt. Die Kultur der Beschämung – Erfurt, Emsdetten und Winnenden erzählen sehr konkret davon – ist nach wie vor eine Realität an unseren Schulen. Wir müssen das anschauen, den immensen Druck anschauen, dieses Nadelöhr, durch das wir die Jungs schicken, wenn wir ihr Handlungsmodell durchbrechen wollen.

Ihr Buch erscheint zehn Jahre nach dem Amoklauf von Erfurt. 2006 folgte Emsdetten, 2009 Winnenden. Es ist doch mittlerweile beim Umgang mit solchen Taten zu einem Lernprozess gekommen.

Ja. Vor allem nach Winnenden gab es eine regelrecht vorbildliche Aufarbeitung. Expertenkommission folgte auf Expertenkommission. Das ist gut und auch sinnvoll. Es gibt eine völlig neue Polizeistrategie und ohne Frage professionellere Rettungsketten. Wir haben unser ganzes Land auf Flucht gebaut. Selbst in den Kindergärten sind die Türknäufe mittlerweile innen und nicht mehr außen. Technisch und rechtlich ist einiges passiert. Mir geht es aber darum zu sagen, dass das nur ein Teil sein kann.

Und was sind die anderen Teile?

Wir haben es bei dem Phänomen Amok, darum auch der Buchtitel, mit einem überkomplexen System zu tun. Das macht es nicht einfach, konkret zu handeln, weil wir dazu neigen, die Verantwortung jeweils in einen anderen Bereich abzuschieben. Einmal sind es die Computerspiele, dann sind es die Waffen, ein anderes Mal ist es die Schule als solche. In meinen Augen verlangt diese Komplexität trotzdem eine klare Entscheidung, bei der wir sagen: Moment mal! Welchen Raum, welche Idee, welche Wärme, welchen Halt brauchen Kinder, damit sie wirkliche Persönlichkeiten werden können. Mir kommt in der ganzen Diskussion dieser Gedanke noch immer zu kurz. Es reicht nicht, das Amok-Phänomen zu bürokratisieren. An unseren Schulen schießt es. Kinder und Lehrer sterben. Da ist Technik allein nicht die Lösung.

Vielleicht sind wir einfach nur überfordert?

Ohne Frage sind wir das. Die Lehrer sind überfordert, die Eltern sind überfordert, die Politik ist überfordert, und die Kids reagieren darauf. Ja, es gibt viel Druck, die Gesellschaft läuft schneller und ist brutaler geworden. Wir leben in rüden Verhältnissen. Und genau deshalb lag mir mit dem Buch daran, die Amokkinder zu entdämonisieren. Sie sind keine Killer oder Monster. Sie sind das kalte Herz unserer Gesellschaft. Sie geben uns Zeichen. Notrufe. Damit entschuldige ich keinen Mord, absolut nicht. Aber es ist möglich, diese Zeichen zu lesen. Es hat etwas Unerträgliches, sich in der notorischen Katastrophe einzurichten.

Wenn wir anfangen, diese Taten zu dämonisieren, heben wir sie im Grunde auf eine metaphysische Ebene, in einen Bereich des Unerklärlichen und lassen somit gar keine Analyse mehr zu.

Das ist der Punkt. Damit wird das Ganze unfassbar. Die Politik reagiert immer auf die nämliche Weise: Das ist das Böse, das unsere Demokratie attackiert. Auch innerhalb der Gesellschaft ist nach diesen Todesauftritten immer öfter zu hören: Das sind Mörder. Die gehören nicht mehr zu uns. Aber diese Taten fallen nicht vom Himmel oder kommen irgendwie von außen. Diese Art Abwehr hat sich, meine ich, verstärkt und sagt etwas über den gesellschaftlichen Hochdruckkessel. Nach Erfurt gab es noch Entsetzen, Mitleid, Anteilnahme. Aber mit jedem Fall sinkt die Halbwertzeit der Trauer. Hauptsache, man ist weit genug weg, wenn es schießt. Ich wollte mit dem Buch diese Akte zurückholen, zu uns. Diese Jungs sind keine Outsider. Sie sind Insider. Sie kommen alle aus gut betuchten Familien, aus dem Kern. Das stellt Fragen.

Diese jungen Schützen kommen aus der Mitte der Gesellschaft und niemand bemerkt etwas. Im Nachhinein gibt es ja immer genug Signale, die auf die Tat hindeuten. Kränkungen, Verletzungen, das Gefühl einer unendlichen Einsamkeit. Wenn mit Ihrem Buch endlich eine Debatte für eine umfangreiche Analyse des Amok-Komplexes angestoßen wird, werden wir dann eher in der Lage sein, solche Taten verhindern zu können?

Ich bin nicht die Tante für den Maßnahmekatalog. Ich bin Schriftstellerin. Ich hatte starkes Material für das Buch: die Ermittlungsakten, psychiatrische Gutachten, Polizeinotrufe, Ortsbesuche, viele, viele Interviews. Ich wollte so konkret wie möglich sein, damit der Leser sich seinen eigenen Katalog erstellen kann. Niemand ist entlassen, wenn es an Schulen schießt.

Ein komplexes Problem, zu dem auch wir gehören? Das wird nicht jedem leicht fallen zu akzeptieren.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen beim Lesen gegangen ist. Aber beim Schreiben konnte ich mir die Jungs nicht so fernhalten, wie ich es gern gehabt hätte. Sie sind so lange keine Mörder, sondern auch das Verletzte in mir. Und wenn ich das zulasse, auch wenn das nicht einfach ist, verändert das zwangsläufig den Blick auf das gesamte Geschehen.

In „Amok-Komplex“ analysieren Sie jeden einzelnen Fall unter anderen Rahmenbedingungen. Der Versuch, die Komplexität dieser Taten anzudeuten?

Einmal geht es ums Transgenerationelle, dann um die Opfer, um die Frage der Medialisierung, um unseren Waffen-Wahn. Im Erfurt-Fall, den ich lange recherchiert habe, geht es noch einmal um das Verhältnis von Gewalt und Politik. Dieser Fall ist ungeklärt geblieben und eine Erzählung über den Osten nach 1989. Wer agierte da? Warum schwieg jeder von etwas anderem? Du gehst als Schriftstellerin an diese Trauma-Orte und hockst dann irgendwann selbst in einem Vakuum. Amokläufe sind Ereignisse ohne Sprache. Die Täter haben keine für sich und ihre Gefühle, aber auch das Umfeld spricht nicht. Meine Idee war, diesem Nichtsprechen eine Sprache zu geben. Ist das Psychotische erzählbar? Und wann ja, wie? Wir haben uns schon so an das Psychotische gewöhnt, dass wir es gleichsam hinnehmen. Aber erzählen, dem Entgrenzten eine Sprache geben, heißt für mich, Räume zurückzuholen, vor allem individuelle Räume, um den Betroffenen ihre Lebenszeit, ihre Geschichte zurückzugeben. Auch den Tätern. Wenn man sich die Fotos anschaut, was das für sanfte, weiche Jungs waren, und dann sind sie in der Lage, nachdem sie sich abgekapselt und alles akribisch geplant haben, mit einer solchen Wucht zu agieren. Ich weiß nicht.

Der Begriff Amok bezieht sich ursprünglich auf einen spontanen Akt der Zerstörung, ein Töten in blinder Wut. Ist Amok überhaupt noch der richtige Begriff für die Taten, über die wir hier sprechen?

Das Wort kommt aus dem Malaiischen und stand ursprünglich für ein legitimiertes Durchdrehen, Ausrasten in einer Gemeinschaft. Und Sie haben völlig Recht, das hier sind keine Amokläufe im klassischen Sinne. Das sind ganz gezielte Hinrichtungen. Sehr detailliert vorbereitet und auch über lange Zeit trainiert. Der Begriff ist also eine Hilfskonstruktion. Aber mit dem Phänomen Amok als globalem Handlungsmodell hat sich der Begriff in dem Sinne noch einmal bestätigt, wieder neu eingeführt.

Diese jungen Schützen sind ja im Grunde Verlorengegangene. Verloren gegangen in unserer Mitte. Was passiert da eigentlich mit ihnen?

Eine solche Tat ist auch ein Beschämungsakt. Das Auffallende an den Tätern ist: Egal, was in ihrer frühen Kindheit geschehen ist, keiner dieser jungen Schützen attackiert seine Eltern. Alle gehen den Umweg über den politischen Raum oder den Schulraum, der ja auch ein politischer Raum ist. Wir haben bislang in der Amok-Diskussion diese Todesakte als Fremdaggression, als erweiterten Suizid erklärt. Eine These meines Buches ist, dass zehn Jahre Computerrealität für einen herben Paradigmenwechsel gesorgt haben. Die Amokkinder sind heute in der Lage ihre Destruktionsenergie über den Todesgang hinaus zu halten. Das Töten selbst ist nur noch das Entree für das Maximum an Resonanz. Was für sie zählt, ist ihre spätere Rezeption.

Besteht die Gefahr, dass sich diese Dynamik, dieses Ziel nach einem Maximum an Resonanz wie in einer Gewaltspirale immer mehr beschleunigt, dass wir mit noch mehr solcher Amokläufe rechnen müssen?

Der Trend ist unabweisbar. Die Fälle häufen sich. Es schießt. Aber was wollen wir? Vor dieser Gewalt etwa kapitulieren?

Das Gespräch führte Dirk Becker

Buchpremiere von „Amok-Komplex oder die Schule des Tötens“ (Klett-Cotta 2012, 19,95 Euro) mit Ines Geipel am heutigen Dienstag, 19.30 Uhr, in der Kleistschule Potsdam, Friedrich-Ebert-Straße 17. Der Eintritt kostet 6, ermäßigt 4 Euro. Kartenreservierung unter Tel.: (0331) 289 67 30

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