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Choreografie in Potsdam: Choreografisches Treffen zweier Kontinente: Vorwärts zur Natur

Der Choreograf Thiago Granato will sich die Zukunft ertanzen. In der fabrik gibt er erste Einblicke in sein neues Stück.

Potsdam - Es gibt in jedem künstlerischen Schaffensprozess diesen Moment, an dem alles möglich ist. Den Moment, in dem das Thema für eine Arbeit gefunden ist, die Form aber noch nicht klar. Den Moment, in dem es nichts gibt als Ideen, Bilder, Variationen dieser Bilder, Ambitionen, Entwürfe, Versuche. Die Phantasie schert in alle Richtungen aus, und keiner, nicht einmal der Künstler selbst, weiß, wohin das Ganze gehen wird. Ein Rausch muss das sein, aber auch ein Kampf: die sprichwörtliche Qual der Wahl aus einer Unzahl an Möglichkeiten.

Normalerweise spielt sich dieser traumhafte, rauschhafte Kampf hinter verschlossenen Türen ab, an Schreibtischen oder in Probenräumen. In der fabrik aber gibt es seit 2006 regelmäßig die rare Möglichkeit, Einblick zu bekommen in die intime Welt des künstlerischen Schaffensprozesses. Am Tag der offenen Studios verlassen Künstler, die hier im Rahmen von Étape Danse eine Residenz innehaben, die geschützte Sphäre des geschlossenen Probenraumes und wagen sich mit Halbfertigem, Unausgegorenem vor Publikum. Weil hier kein „Kunstwerk“, sondern ein Entwurf zu sehen ist, ist der Eintritt frei. Was auch heißt: keine Garantie.

Ein Rausch der Möglichkeiten - aus dem Kopf auf die Bühne

Der brasilianische Choreograf Thiago Granato, hat sich – wie auch die Französin Malika Djardi, die in Potsdam an „3“arbeitet – auf das Wagnis eingelassen. Am Freitag stellen beide Auszüge ihrer Arbeiten vor. Der Zeitpunkt ist bewusst gewählt: Im Berlin tummeln sich aufgrund des Festivals „Tanz im August“ gerade scharenweise Tanzschaffende, die wie jedes Jahr sogar mit einem Bus nach Potsdam gefahren werden.

Granato, der in Berlin lebt, probt seit Mitte August in Potsdam an seinem neuen Stück „Unothering“. Hier hat er in den letzten Tagen zum ersten Mal überhaupt eine Szene probiert. Davor spielte sich der Möglichkeiten-Rausch nur im Kopf ab, hier wird er erstmals körperliche Gestalt annehmen. Wie viel davon bei der geplanten Berliner Premiere im Sommer 2018 noch übrig ist, steht in den Sternen. Möglicherweise ist also das, was am Freitag in der fabrik zu sehen sein wird, hier das einzige Mal zu sehen.

Eine Begegnung zwischen Nachkriegsjapan und Brasilien

„Unothering“ ist der geplante Abschluss einer Trilogie, deren erster Teil – das Solo „Treasured in the Dark“ – im Mai bei den Tanztagen 2017 zu Gast war. „Choreoversations“ heißt die Trilogie, eine Wortschöpfung aus den englischen Begriffen für Choreografie und Unterhaltung, Austausch. Tatsächlich sucht Thiago Granato darin tänzerisch den Dialog mit anderen Choreografen – mit lebenden, toten und sogar mit noch nicht geborenen. „Es begann damit, dass ich zwei tote Choreografen einlud“, erzählt er, als wohnten die Geladenen gleich um die Ecke. In „Treasured in the Dark“ eignete er sich die Körpersprache der beiden verstorbenen Choreografen Tatsumi Hijikata und Lennie Dale an – der eine ein japanischer Butho-Tänzer, der andere ein brasilianischer Tänzer der 1960er-Jahre. Er ließ sie gewissermaßen Besitz über sich ergreifen. Die Idee: nichts Geringeres als eine Begegnung zweier Kontinente – des Nachkriegsjapans und Brasiliens, wo 1965 bis 1985 eine Militärdiktatur herrschte – im Körper von Thiago Granato. Und, idealerweise, im Kopf der Zuschauer natürlich.

„Unothering“, die in Potsdam entstehende Arbeit, geht noch einen Schritt weiter. Hierin will Thiago Granato Tänzer der Zukunft zum Tanz im eigenen Körper einladen. Ein Sprungs ins Offene: Hier gibt es keine tanztheoretischen oder -praktischen Anhaltspunkte, auf die Granato sich beziehen kann. Hier muss er nicht nur die Künstler erfinden, sondern zuerst die Zukunft, aus der sie stammen. Angst vor großen Themen hat der Mann nicht. Eines ist diese Zukunft ganz bestimmt nicht, so viel steht für Thiago Granato fest: maschinengesteuert. Zu naheliegend, um interessant zu sein, sagt er. „Die Idee, dass in Zukunft alles von Maschinen programmiert wird, ist ja eigentlich nichts Neues, nichts Zukünftiges. In gewisser Weise ist das die Gegenwart.“

Eine Zukunft ohne Menschen vorstellen

Zukunft müsse man sich ohne Menschen vorstellen, findet er. „Ich bin überzeugt, dass es die gegenwärtige, kapitalistische Zivilisation nicht mehr lange geben wird.“ So kam Granato auf die indigenen Völker, jene, die sich ihre eigenen „Technologien“ entwickelt haben, um mit der Natur zu kommunizieren. „Meine Technologie ist meine Vorstellungskraft“, sagt Thiago Granato und erzählt von der Sängerin Björk. Sie äußerte sich einmal verwundert darüber, dass alle immer sagen: Back to nature. Dabei müsse es doch heißen: Forward to nature!

Folgerichtig gehören die beiden Choreografen, die Thiago Granato in „Unothering“ in sich tanzen lassen will, nicht zur menschlichen Spezies. Er nennt sie „Stein“ und „Jaguar“. Als er für das Foto posiert, kauert sich Thiago Granato still auf einen Hocker auf Rollen. Ein Stein – oder ein Jaguar vor dem Sprung? Alles ist möglich.

Offenes Studio in der fabrik: morgen um 11 Uhr, anschließend Gespräch und Brunch

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