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Welt in Trümmern: Die deutsche Künstlerin Katharina Grosse lässt im Arsenale Farben explodieren.

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Biennale Venedig: Desaster in Bunt

Wo bitte geht’s zur Welterkenntnis, fragt man sich bei der 56. Kunstbiennale Venedig? Okwui Enwezor hat als Kurator der großen Biennale-Ausstellung ehrgeizige Ziele – und präsentiert im Arsenale eine überfrachtete Schau.

Der Engel sieht nur Trümmer. Ändern kann er nichts an der Katastrophe. Der Wind des Fortschritts treibt ihn voran, einer ungewissen Zukunft entgegen. Vor fast hundert Jahren malte Paul Klee seinen „Angelus Novus“, der nicht zuletzt durch Walter Benjamins Interpretation Berühmtheit erlangte. Ein luzides Kunstwerk erfasste die Gegenwart, ein hellsichtiger Betrachter verstand es zu lesen.

Einen solchen Erkenntnismoment wünscht sich auch Okwui Enwezor, der Ausstellungsmacher der 56. Biennale di Venezia. Was vor uns liegt, ist nicht weniger katastrophal als damals die Ruinen des Ersten Weltkriegs. Heute würde der Engel wieder Krieg, Armut, Menschenhandel erblicken, dazu das ökologische Desaster. Um dafür einen künstlerischen Ausdruck zu finden, hat der nigerianische Kurator und Direktor des Münchner Hauses der Kunst 136 Maler, Bildhauer, Filmemacher, Performer nach Venedig eingeladen, für die 89 Länderpavillons - ein Drittel davon in den Giardini - sowie für die große Ausstellung im Arsenale und den Hauptpavillon in den Giardini. Das seit Anfang der Woche, spätestens aber zur Eröffnung am Samstag angereiste Kunstvolk formt sich dabei zur Parallelwelt: die Superreichen, die Netzwerker, die Sammler, die Schreiber, die Künstler, die Preisträger: Den Goldenen Löwen erhielt gestern die in Berlin lebende Amerikanerin Adrian Piper, der Preis für den besten Länderauftritt ging an Armenien – und eine der lobenden Erwähnungen an den 2014 verstorbenen deutschen Videokünstler Harun Farocki.

Okwui Enwezor will es wissen. Er greift nach dem Höchsten, nach Sehen und Erkennen im Sinne Walter Benjamins. Umso bitterer sein Scheitern: Die große Ausstellung im Arsenale erschlägt den Besucher förmlich – und deprimiert. Die Ouvertüre liefert den ersten Schlag, brutal und banal zugleich. Der Algerier Adel Abdessemed hat Macheten zu Sträußen zusammengesteckt, auf dem Boden verteilt und nennt das Werk „Nympheas“, frei nach Monets Seerosenbildern. Dazu flackern an den Wänden Bruce Naumans Neonröhren mit Grundbegriffen wie „Death“ und „Eat“. Wie bei Abdessemed verschränken sich darin Schönheit und Gewalt.

Es folgt ein visuelles Trommelfeuer, kaum etwas bleibt länger im Gedächtnis. Bis auf den Zwischenakt von Katharina Grosse, die einen riesigen Raum in Farbe aussprüht, über Betonhalden und aufgespannte Tücher hinweg – das Desaster in Bunt. Das Finale liefert Georg Baselitz mit acht monumentalen Leinwänden, jeweils eine nackte Figur kopfüber auf schwarzem Grund. „Fällt von der Wand nicht“, so der Titel – immer noch exorziert Baselitz seine Kriegserfahrungen als junger Man. Dazwischen macht der Besucher im besten Fall glückliche Funde, etwa mit Peter Friedls Häuschen, lauter Modellen realer Gebäude wie Heideggers Schwarzwaldhütte oder Ho Chi Minhs Privatresidenz. Eine Sozialanalyse der anderen Art. Oder er stößt auf Mika Rottenbergs Video, wenn er das rekonstruierte Ladenlokal einer Perlenkettenfabrik durchschritten hat: eine gefilmte Fantasie aus Seifenblasen, die durch öde Flure wabern.

Und der Goldene Löwe geht an ... die in Berlin lebende amerikanische Künstlerin Adrian Piper. Den Preis fürs Lebenswerk erhält der ghanaische Künstler El Anatsui.
Und der Goldene Löwe geht an ... die in Berlin lebende amerikanische Künstlerin Adrian Piper. Den Preis fürs Lebenswerk erhält der ghanaische Künstler El Anatsui.

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Enwezor hat sich über die geringen Mittel für seine Ausstellung beklagt. Hätte er das vermeintlich wenige besser genutzt, Künstler, Besucher, Kurator, alle hätten gewonnen. So aber schneidet seine Schau schlecht ab im Vergleich zu einer anderen Ausstellung, die derzeit in der Punta della Dogana zu sehen ist. Mit der Biennale hat die Schau in François Pinaults Privatmuseum nichts zu tun bis auf die Tatsache, dass ihr Kurator der vietnamesische Künstler Danh Vo ist, der in den Giardini den dänischen Pavillon bespielt. Pinault gab dem Künstler Carte blanche, der in der Kollektion des französischen Sammlers frei wählen, Historisches, Zeitgenössisches und eigene Werke platzieren durfte.

Danh Vos Ausstellung an der Punta della Dogana am Rande der Biennale: besser als die Haupt-Schau

In Danh Vos Werk kreuzt sich das eigene Schicksal als Boatpeople-Kind mit der tragischen Geschichte seines Heimatlandes. Das Foto von fünf französischen Missionaren vor ihrer Abreise nach Indochina oder der Kronleuchter des Pariser Hotels Majestic, in dem 1973 der Neunpunkteplan für einen dauerhaften Frieden in Vietnam unterzeichnet wurde, sind für ihn Requisiten einer künstlerisch-biografischen Narration. Dazu gesellt er Ikonen der Kunstgeschichte: eine Badende von Picasso, einen Christuskopf von Bellini, das Kartoffelhaus von Sigmar Polke, den mit Eierschalen gefüllten Küchenschrank von Marcel Broodthaers. Und er zeigt Arbeiten von Freunden wie Elmgreen & Dragset und Zoe Leonhard sowie melancholische Hommagen an Künstler, die an Aids gestorben sind.

In den ehemaligen Zolllagern der venezianischen Republik an der Punta della Dogana fügt sich Danh Vos Auswahl zu einer feinen, ergreifenden Ausstellung über Künstlerbeziehungen und Erinnerungen. Überbau und Welterklärung: In der individuellen Schau findet sich einiges von dem, was man im Arsenale vergeblich sucht. Auch dass der nigerianische Kurator Enwezor besonders viele afrikanische Künstler präsentiert, macht die Biennale nicht unbedingt reicher, sondern nivelliert umgekehrt deren Beitrag.

"Das Kapital" von Karl Marx wird komplett vorgelesen, in den Giardini der Biennale

Natürlich versucht Enwezor Schneisen zu schlagen durch das Dickicht an Kunst, das ihm Antworten zu seinen großen Fragen zuwispert. Ausgerechnet bei Karl Marx’ „Kapital“ hat sich der Ausstellungsmacher Beistand geholt. Er lässt dessen ins Englische übersetztes Hauptwerk über Tage hinweg von Schauspielern vorlesen. Ironisch ist das nicht gemeint, auch wenn in den Eröffnungstagen die Luxusjachten der russischen Magnaten wieder vor Anker gegangen sind und deren chirurgisch modellierte Gefährtinnen an den Sprechern vorüberflanieren, mit schlenkernden Gucci-Taschen.

Die tiefernst in Schwarz gekleideten Marx-Rezitatoren sind im Zentrum des Giardini-Hauptpavillons platziert, dem zweiten Teil der großen Biennale-Ausstellung. Auch hier herrscht problematische Überfülle, aber wenigstens ist das Kollektiv der Kunstwerke hier besser orchestriert. Und in mancher Arbeit steckt die Aussagekraft eines „Angelus Novus“, etwa Robert Smithsons gestürzter Baum, zwischen dessen Zweigen zweiseitige Spiegel stecken, als wolle der Künstler zum Blick zurück auf die Katastrophe animieren. Oder Walker Evans Fotoserie „Let us now praise famous men“ aus den Jahren der Weltwirtschaftskrise in den USA, eine Verbeugung vor dem Überlebenskampf der Bauern im Mittleren Westen.

Heldengeschichten gibt es keine zu erzählen. Das demonstrieren die demontierten Feldherrendenkmale der indischen Künstlergruppe Raqs Media Collective in den Giardini. Den gespenstischen Erscheinungen fehlt mal das Gesicht, mal ist der Körper unter dem weiten Mantel verrutscht. Ihr Vermächtnis ist die Fragmentierung, mitten in einer immer stärker wuchernden Biennale, deren Wachstum auch im 120. Jahr nicht abgeschlossen scheint. Ein aufgeschnappter Satz von Marx, das großartige Video Mika Rottenbergs in der hintersten Ecke des Arsenale, die Wiederentdeckung der ägyptischen Malerin Inji Efflatoun, die surrealen Spielanordnungen des Franzosen Boris Achoir, das zählt. Die Währung in der großen Kunstwelt besteht in kleiner Münze.

Biennale di Venezia, bis 22. November, Infos: www.labiennale.org

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